Brief eines Bewunderers, April, 2006

S.g. Herr Sloterdijk,

In fiebriger Hast und höchster Eile, wie Ingeborg Bachmann ihre nie abgesendeten Postsachen an diverse Würdenträger, konzipiere ich diesen Dankbrief nächtens, nachdem ich zum zweiten Mal den Weltinnenraum des Kapitals beinahe in einem Zug gelesen habe. Bei der Lektüre Ihrer Texte, dieser Briefe an die Zukünftigen, von denen ich schliesslich auch einer bin, lediglich eine Generation von Ihnen entfernt, erfasst mich jedes Mal so etwas wie eine Ekstase und so gebe ich meiner Dankbarkeit an Sie nach in dem Glauben, dass eine Danksagung nie fehl am Platze ist, wie gering der Adressant auch sei. Vielleicht ist es auch das Bewusstsein, dass Derrida nicht mehr unter uns weilt und deswegen die Oberfläche des theoretischen Ozeans sich langsam reichlich dünn ausnimmt.

Ich weiss auch nicht wie ich die Worte wählen soll auf dass dieses Unterfangen nicht peinlich ausfällt, aber wenn Sie gestatten würde ich einen zutiefst von Herzen kommenden Dank an Sie richten, für ihre wundervolle Publikationstätigkeit mit welcher Sie mit uns Lesern in Kommunikation treten, die, wenn ich für mich sprechen darf, doch zuweilen die Hoffnung verloren hatten, dass so etwas möglich ist, das Pfingstwunder, wenn ich Sie paraphrasieren darf, mit literarischen Mitteln, für uns ewig Wissenshungrigen. Bücher zu verstehen setzt ja nach der Theorie sozialer Systeme voraus, dass man in Praxisgemeinschaften gelernt hat, Information in Wissen zu verwandeln. Wie dem auch sei, es scheint mir, dass sie ihren Finger auf Themen richten, von denen man lieber nicht spricht, die aber schon jedes Kind wissen wollte. Manches mal wird Ihnen Ungenauigkeit vorgeworfen. Darauf antworte ich immer: Sloterdijk (also in Wirklichkeit kürzen wir oftmals ab und sagen: Slotti - oder wenn ich mir diese noch unziemlichere Anmerkung gestatten darf, sagen wir auch Tante Slotti, aber nur um ihre überragende Qualität zu konnotieren, die wir ja auch live aus der Bildenden kennen, wie zum Beispiel mit dem Ausruf: Tante Slotti weiss wieder einmal alles!), jedenfalls rufe ich dann regelmässig aus: Sloterdijk versucht quasi im Alleingang die Begriffe umzumünzen, Neuzuprägen die Historia Rerum Gestarum, da wird man doch verstehen können dass er nicht alles im Detail besprechen kann! – Ihrer Defintion nach münzen sie ja nicht allein um sondern erklären, auf welchen Abschnitt des Lebens der letzten Kugel sie den Begriff der Geschichte einschränken wollen. Und natürlich sind sie nicht allein sondern in einem reichen Kommunikationszusammenhang, jedenfalls find ich im Gegenteil bei ihnen eine unermessliche theoretische Fülle vor, die mancher, alleine auf sich gestellt, niemals akkumulieren zu hoffen könnte. Um ein Beispiel zu geben: Als guter Kenner von Deleuze war ich immer entzückt von seiner Intuition, die Griechen und Engländer waren deswegen so gute Philosophen, weil beide seefahrende Völker waren. Das ist also bei Deleuze gerade einmal ein Hinweis, ein Satz im Leeren sonstiger philosophischer Floskeln. Bei ihnen hingegen gerinnt es zu einer maritimen Seekunde epischen Ausmasses. Alles was man schon immer über die harten und weichen Mittel der Menschen wissen wollte findet sich bei ihnen en gros und en detail, angefangen von den Ursprüngen von Analyse und Synthese bis zur gottähnlichen Geste heutiger Architekten. Und wenn ich nochmals meinen Lieblingsphilosophen anstrengen darf, das ist genau das, wovon Kinder träumen, nicht allein die ödipale Situation sondern die ökonomischen, sozialen und politischen Zusammenhänge sind doch interessant, obwohl es so scheinen möchte, dass wir tatsächlich dazu erzogen werden, die menschliche Realität als gegeben hinzunehmen und Fragen nicht zu stellen. Und da aller Dinge drei sind gestatten sie mir diesen rührenden Moment zu beschreiben als ich Der Tau der Bermudas las: Da ging es doch um die Unilateralität der Täter wenn ich mich recht entsinne und da kamen sie auf die mehrwertige Logik zu sprechen, im Gegensatz zur Binarität, um sich plötzlich, als Autor, selten genug, zu outen, mit dem Eingeständnis sie antizipieren dieses neue Konzept zwar, seien aber selbst noch gänzlich binär, wenn man so sagen darf. Überhaupt habe ich oft das angenehme Gefühl, sie argumentieren wertfrei, ohne einerseits sich oder ihre Kultur anzuklagen, andererseits aber auch nicht als Agent einer Weltanschauung aufzutreten, jedenfalls nicht mehr als in der Form einer Anmerkung einer Präferenz. Das alles sind natürlich die Mittel der Ironie, aber wenn, dann geladen mit Bestärkungen und Anregungen zu weiterer Forschung (an ungewissen Plätzen, wie in Eurotaoismus zu lesen war. Ein Hoch! auf Wittgenstein und die Uni). Wenn man bei der Lektüre anderer Bücher eine Leseliste zusammenstellen könnte, dann kann man bei den Ihrigen eine Schreibliste zusammenstellen. Es vergeht wohl kein Abschnitt, in dem Sie nicht auf ein weiteres ungeschriebenes, mehr noch: benötigtes Buch hinweisen, sei es das Buch der Vizekönige oder die Zusammenhänge zwischen Automobilen und Komfortsphären, etc. Ach, wäre ich doch nur akademisch begabt, nie würde mir der Stoff ausgehen!

Über noch einen kleine Meilenstein den sie bei uns bewirkt haben (ich sage wir, aber in Wirklichkeit sind von den drei, vier Konversationspartnern einer übrig geblieben, mit dem das Thema Sloterdijk ein Dauerbrenner ist) will ich berichten: Der Verwöhnungsbegriff. Wie es sich für eher links orientierte Denker gehört, und wie sie ja sagen ist das ein Jahrhunderte lang eingeübter Reflex, waren wir es gewohnt auf die Verschwendung zu schimpfen. Aber mit ihrer anschaulichen Komforttheorie ermöglichen sie es, ein emotional konditioniertes Thema auf seine realen Dimensionen zurückzuschrauben. Unvergessen wird mir ihr Ausspruch bleiben, Dekadenz sei etwas Menschenimmanentes und eben keine Degenerationserscheinung. Natürlich balancieren sie das vorsichtig mit dem Zusatz, in einer modernen Gesellschaft wäre Dekadenz und Entwicklung ununterscheidbar. Jedenfalls nehmen sie mit diesem Argument allen ´Erschwerungsagenten´, oder wie sagen Sie, den Wind aus den Segeln. Lange Zeit schon hatte ich die Vermutung, dass früher noch nie besser hiess.

An dieser Stelle würde ich gerne noch eine Beobachtung über meine eigene Person einstreuen, wenn sie gestatten. Wie gesagt war ich es gewohnt links zu denken, und als schnell eingebürgerter Pole in Österreich vor allem den Faschismus im Auge zu behalten. Aber irgendwann einmal war ich gezwungen diese bequeme Eindeutigkeit des Gutmenschen zu überschreiten um mich, deleuzianisch/guattarisch gesprochen, den eigenen Mikrofaschismen nähern zu können. Damit verlor ich viel von der guten alten Unschuld und wurde in gewisser Weise Bürger vieler Welten, der selbst die faschistische Tragik integrieren konnte, wie sie sagen als Belastungsagentur beispielsweise, und es reifte in mir die Einsicht, dass wir doch alle Menschen sind und die Ausgrenzung kein adäquates Mittel ist, wenn sie nicht gar egoistischen Motiven dient. Es mag auch die Beschäftigung mit buddhistischen Themen das ihre dazu beigetragen haben. In diesem Zusammengang verwundert es sie wahrscheinlich nicht, dass ich auch von einem anderen Ihrer Eingeständnisse tief berührt war, ich glaube in der Zynischen Vernunft, nämlich die Weimarer Republik zehn Jahre lang studiert zu haben. Eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit der Geschichte der Väter kann man sich wohl nicht denken. Seitdem bringe ich zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit das Zitat: Damals war Jedermann ein kleiner Feldherr, mit der druckfrischen Napoleonbiografie unter dem Arm. – Wie sie schon sagen, es zeitigt seltsame Ergebnisse, historische Ereignisse mit posthistorischen Kategorien zu bewerten. Letztens las ich in einem (alten) Lettre International von einem interessanten Nebenschauplatz der Geschichte: Die Belgier hätten im Kongo 10 Mio. Einheimische auf dem Gewissen, sagt dieser berühmte Journalist, und sie würden das bis heute nicht so recht zugeben wollen. Komisch, die tatsächlichen Täter sind doch schon längst den Weg alles Irdischen gegangen? Ohne irgendwelche makabren Zusammenhänge konstruieren zu wollen würde ich nur gerne anmerken, welche interessanten Lücken in meinem Wahrnehmungssystem existieren. Wie soll man mit solchen Nachrichten umgehen? Ich glaube ihre Art der nüchtern-ironischen Darstellung ist auch bei solchen Themen ungeschlagen, und wenn ich mich nicht irre haben sie sogar diese Seite der belgischen Geschichte erwähnt, im Weltinnenraum. Eine gewisse Kontextualisierung habe ich auch letzten wieder bei ihnen zu verspüren gemeint, als sie nebenbei von den ´vielen Holokausten´ der Nazis, Stalinisten und Maoisten sprachen.

Vor wenigen Jahren ist mir im Zusammenhang mit diesem Thema bzw. mit meinen üblichen Lobeshymnen zu ihrer Person etwas Witziges passiert. Ich pries Sie einem Mathematiker an der sich mit Husserl und Heidegger beschäftigt. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass er in der Mühlkommune aufgewachsen ist, dort unter der Tyrannei des Herrschers gelitten hat und also behauptet, diese wäre eine faschistische Angelegenheit gewesen. Dazu mag man stehen wie man will, jedenfalls behauptete er, und ich sage ihnen ja da nichts neues und sie sind es wahrscheinlich auch leid noch immer mit diesem Unsinn belästigt zu werden, ich will auch eher mein Erstaunen artikulieren, also kurz heraus, und ohne etwas von ihnen zu kennen, sie wären Faschist. Wie witzig, wie sich eine Medienpopularisierung noch in die kleinsten Einheiten verzweigt, er hatte diese Meinung natürlich im Zusammenhang mit der leidigen Menschenpark Debatte aufgeschnappt. Aber ist es nicht köstlich, was manche Menschen von Ihnen halten, ohne jemals einer wirklichen Äusserung von Ihnen, geschweige Ihnen in persona, begegnet zu sein? Übrigens kenne ich die diesbezüglichen Dokumente und Ihre glänzende, ich glaube auch einigermassen höhnische, Verteidigung, für mich ein weiteres Beispiel Ihrer vorurteilfreien Sicht. Jedenfalls, um vielleicht noch eine weitere Anekdote dranzuhängen, ist mir ein ähnliches Vorurteil während meiner Zeit auf dem phänomenalen philosophischen Institut der Uni Wien unterlaufen. Unbewusst sog ich die Meinung auf, Nietzsche wäre Faschist gewesen. Dazu ist zu sagen, dass ich den ersten Abschnitt lang eine sehr bodenständige Grundausbildung durchlief, bis ich mich im zweiten, unrühmlich unabgeschlossenen, den Franzosen zuwandte. (N.B. gehört das Fünfte Testament zu meiner Lieblingslektüre, und wenn ich mir T. Jefferson vorstelle dann sitzt er zitternd in dem unbeheizten Saloon des Maniac Mansion in dem alten Computerspiel Day of the Tentacle neben dem sein Spiegelbild bewundernden Washington, während Ben Franklin draussen Drachen steigen lässt.)

Aber nach dieser langweiligen Zusammenfassung von Dingen die sie grösstenteils ohnehin schon wissen und da dieser Brief ganz anders geworden ist als ich geglaubt oder gehofft habe würde ich sie gerne mit einer Frage herausfordern, die vielleicht in dieser simplen Form überhaupt keine ist und nur geeignet ihr Missfallen zu erregen, aber sie brennt mir schon lange auf der Seele und scheint gleichzeitig so ein Tabu zu sein, oder eine Selbstverständlichkeit, was ja oft dasselbe ist, dass ich mich trotzdem damit herauswage:

Nach ihrem Bonmot ist der zweite Weltkrieg eine unvermeidliche Folge aus dem ersten sehr leicht vermeidbaren. Meine Frage betrifft die Vermeidbarkeit des WK I. Wenn ich die Situation nicht allzu vereinfacht sehe dann waren zumindest seit dem letzten Viertel des 19ten Jhds. riesige Bevölkerungsbewegungen im Gange, die berühmte Landflucht also, die zum Arbeiterproletariat führte. Dazu die Bevölkerungsexplosion durch die verbesserte Medizin. Wir haben also völlig entwurzelte Massen in den Städten unter quasifeudalen Bedingungen als Dienstboten und Fabriksarbeiter. Es sind Massen die ihrer bäuerlichen Identität verlustig gegangen sind, ohne noch eine neue angenommen zu haben (dieser Prozess ist ja noch immer im Gange und darf mit Ihnen gesprochen wohl Identität als Konsument heissen), mit einem Wort: Bauern ohne Land. Als Zeugen kann ich leider nur Virginia Woolf nennen, die mindestens ein halbes Duzend Geschwister hatte, die damals übliche Zahl also, und Angst vor den Dienstboten; Gustav Meyrinks Golem, in dem das Elend und die absurden Herrschaftsverhältnisse Kakaniens anhand des jüdischen Gettos dekliniert werden; Robert Altmanns Film über die Verquickung der Dienstboten mit den Herrschaften, der Titel ist mir leider entfallen; vielleicht noch Stephan Zweigs geflügeltes Wort vom Rentenzeitalter für seinesgleichen. Angesichts also einer überquellenden Masse bar jeder Kultur und Identität, denn es wird selbst den Kolonien, besonders in Deutschland, schwer gefallen sein diese so reichlichen Überschüsse an Menschen aufzunehmen, liegt doch die Vermutung nahe dass alle nur allzu begierig waren die bestehende Ordnung mit Krieg zu überziehen. Worauf ich aber im Grunde hinaus will ist das Dogma von der Vermehrung der Völker. Es scheint doch ein, fraglos mit gutem Grund, unhinterfragbares Tabuthema zu sein, vor allem angesichts schwindender Geburtenraten im Westen, dass Menschengruppen sich vermehren müssen bzw. zumindest die Kopfzahl halten. Niemand scheint etwas von rückläufigen Bevölkerungen hören zu wollen, natürlich genauso wenig wie von sinkendem Luxus. Nun ist mir das auf einer organischen Ebene schon klar, die Evolution und so, aber schliesslich ist auch der Umweltschutz erst in einer längerfristigen Perspektive nutzvoll. Dennoch wird darüber wenigstens schon nachgedacht. Aber in Punkto Kopfzahl sehe ich nur das Lament über die überproportional wachsenden Ausländer- und Menschen-in-der-Dritten-Welt Zahlen. Niemand scheint auch nur nachdenken zu wollen über die mögliche Positivität sinkender Bevölkerungszahlen. Ist das wirklich das tierische Erbe, verbunden mit der Angst um Pensionen und vor Arbeitskräftemangel? Wenigstens letzteres ist ja heute, zumindest im unqualifizierten Bereich, nicht zu behaupten. Ist es wegen dem Status der Lüste? Ist es also diese integrale Funktion des Lebendigen, die verschwendende Vermehrung um jeden Preis? Zumindest in der Praxis scheinen ja die Menschen der Wohlstandszonen eine andere Sprache zu sprechen. Fühlen sie etwa ´instinktiv´, auch wenn sie bewusst das Gegenteil behaupten, dass eine sinkende Bevölkerungsrate nicht nur komfortfördernd sondern auch Menschen angemessener sein könnte? Ich würde behaupten dass das doch ein Weg sein kann zu einer besseren Ausbildung und zu der Behandlung die sich alle Menschen wünschen: dass sie etwas besonderes seien. Ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch ein letzterer möglicher Fauxpas gestattet, dass vielleicht die Probleme im islamischen Raum ausser der verheerenden Kolonialauswirkungen (zB. 1904 (/6?), das Jahr, in dem der Arabische Raum in die Weltwirtschaft gezwungen wurde) die Situation des europäischen Fin de Siecle spiegelt: Eine ausser Rand geratene Bevölkerungsexplosion, bei der das Menschenmaterial soweit missachtet werden kann, dass einzelne Individuuen sogar mit einer hundertprozentigen Todeswahrscheinlichkeit in den (heiligen) Krieg geschickt werden können? Es gibt ja auch, obwohl das an dieser Stelle wohl etwas platt wirkt, diese Szene in Mon oncle d´amerique wo die zwei im selben Käfig künstlich gereizten Nager ihr Wohlbefinden bewahren, indem sie sich gegenseitig in die Haare geraten.

So jetzt ist es raus und hört sich erwartungsgemäss noch schlimmer an als befürchtet. Ich will ja nicht behaupten das wäre der Weisheit letzter Schluss, vor allem gibt es keine Monokausalität, das ist ja so ziemlich das erste was man heutzutage am Geschichtsinstitut hört, dennoch habe ich noch keine angemessene Diskussion zu diesem Thema gehört, was entweder beweist dass es tatsächlich aus der Luft gegriffen ist oder eben ein Tabu bleibt, noch dazu da es als fremdenfeindliches Sujet sowieso schon besetzt ist. Diese Frage nach der Kinderzahl scheint mir aus dieser Richtung noch unbetretenes Terrain zu sein. Aber ich bin mir wohl bewusst dass es ein müssiges und uninteressantes Thema ist, wenn man das überhaupt so nennen kann.

Auf die Gefahr ihre Geduld noch weiter zu strapazieren will ich noch ein weiteres Gebiet meines Interesses anschneiden. Es ist nicht so dass ich Sie um Beantwortung meiner so genannten Fragen bitte, sehe ich mich doch von ihnen mir Antworten schon hinlänglich beschenkt, es ist wohl eher die Freude mal wieder angeregt zu sein von der Lektüre und wieder etwas zu schreiben. Wenn ich ein philosophisches Thema hätte, wäre es wohl die Gewohnheit, l´habitude oder so, eigentlich eher physiologisch, um mit Nietzsche zu bleiben. Was es da an Anekdoten bei Proust gibt! Das Thema aber das mir vorschwebt ist so nebelig, das ich bislang nur den Name Soziale Nische dafür gefunden habe, ein höchstwahrscheinlich schon in Gebrauch befindlicher Begriff, oder: Alles flieht. Jedenfalls hat es mit Differenz zu tun, ganz im Sinne Deleuze und Derrida. Mikropolitik, oder Molekularität würde ersterer wohl sagen. Es wäre also die banale Beobachtung, dass Menschen danach streben sich zu unterscheiden. Sagt der eine A, wird der andere mitunter B nehmen, nur um etwas eigenes zu haben. Oder der andere sagt nur B, um nicht überein zu stimmen. Unterscheidung ist gut, vor allem in neuester Zeit, aber Kooperation auch. Im Grunde ist es die Frage nach der Möglichkeit von Gruppenhomogenität. Wie ist sie zu erreichen, warum ist es so schwierig, warum gibt es die Abspaltungen? Der Antworten sind Legion. Eine mag die Tyrannei der Majorität sein, eine andere, dass die Kommunikation immer mittelbar stattfindet, über die vielen Schaltstellen der Funktionäre und Agenten. Die unterschiedliche Problemwahrnehmung spielt wahrscheinlich auch eine Rolle. Wie ist es mit der Interpretation des Gründungskanons? Aber zu originären Gründungen geben ja ihre Analysen sowieso wenig Anlass, in unserer Zeit der Anschlüsse an Bestehendes. Wie erreicht man Konsens ohne die Übereinstimmenden zu versklaven?

Mein Gedankenexperiment zu diesem Problem wäre, die Gründung samt Folgehandlungen des ersten Parks auf Video in jederzeit einsehbaren Archiven bereit zu halten, zusammen mit den filmischen Anleitungen zu den wesentlichen Systemhandlungen. Naja, lassen wir das.

Einen letzten Punkt will ich nicht unerwähnt lassen. Er betrifft Luhmann. Wenn ich ihre Haltung zu seiner Theorie sozialer Systeme richtig erfasst habe befinden sie sich in sympathischer Distanz dazu. Ihre Analysen zielen unter anderem darauf ab zu zeigen dass Geld nicht unbedingt ein knappes Gut ist. Aber es gibt da diesen Spruch der mich in Erstaunen versetzt: Nach Luhmann kann man, natürlich nur für soziale Systeme, drei Steuerungsmedien unterscheiden: Macht, Geld und Wissen, die in dieser Reihenfolge das Licht der Welt erblickt haben. Drei Möglichkeiten, nicht mehr und nicht weniger, wobei letztere beinahe gänzlich den utopischen Instrumenten zugeschlagen wird. Aber, und da stutze ich jedes Mal, es ist beinahe zu einer Obsession geworden, Macht und Geld werden weniger wenn sie geteilt werden, Wissen jedoch, wenn es nicht nur als Vehikel für eine dieser beiden Formen dient, wird durch Teilung vermehrt. Eine wunderbar einfache Intuition!

Tja, das war es, und ein weiteres Mal werden sie wohl nicht erstaunt sein, dass ich sie an dieser Stelle als Vorläufer des Steuerungsmediums Wissen hochleben lassen will, jenseits der zum Teil müssigen Träume informationstechnischer Wissensgesellschaften. Und Sie sehen ja, ich bin nicht verlegen Sie den Grössten Wohltätern an die Seite zu stellen und so danke ich Ihnen gleich noch für die eigentlich recht banale Tatsache, dass sie in der Romantikübung auf der Angewandten den Baudelaire so hinreissend basslastig auf Französisch vorgetragen haben, dass ich mir zumindest einige seiner Balladen und Sonette in eben dieser Sprache eingeprägt habe, um eine klassische Bildung wenigstens vorspiegeln zu können. Vive le solaire! Es lebe die Kontextsteuerung! Es lebe der Konsum! Möge der Befehl samt Stachel dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst (was vielleicht einigermassen politisch inkorrekt klingt heutzutage)! Und danke auch für ihre Reproduktion des Dokuments 1, der ´Nadelredel´ Adam Smiths, die ich sonst wohl nie vernommen hätte, obwohl mich bei Rilke eher die Tatsache belustigt, dass er mit Lou Andreas-Salome verbandelt war. Es lebe die Schizoanalyse! Mögen Sie und Ihre gesamte Nachkommenschaft sämtliche Genii Benigni (mein Latein ist schrecklich) beschützen!

Verbleibe mit Respekt und Dankbarkeit,

b_ryz@yahoo.de

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