Emilie 3 / 1

 

H: Ich habe Gestern einen Film von Chabrol gesehen. Du weißt ja, er gilt als einer der grossen Regisseure. Die Hauptrolle spielte diese Schauspielerin, ich habe sie gar nicht erkannt, wie heisst sie, die auch die Klavierspielerin spielt, die Verfilmung von Jelinek, dieses Österreichers … ? -

Ich: Isabelle Huppert. Haneke … -

H: Genau. Sie ist die Postangestellte des kleinen Dorfes, in welchem eine bürgerliche Familie, so typische Bourgeois, ein Landhaus besitzen. Dann gibt es die andere Frau, das Dienstmädchen, sie kommt zusammen mit der Familie aufs Land und befreundet sich im Verlauf der Geschichte mit der Postfrau, die nicht richtig im Kopf ist, das spürt man gleich von Anfang an. Und tatsächlich ermorden die beiden dann die ganze Familie, grauenhaft! Dieses Männchenkino! … Weißt du was, das ein richtiges Männchen dieser Chabrol. Er hasst Frauen, das spürt man richtig! In diesem Film sind die Frauen richtige Bestien … die typische Männchenperspektive! Die durchdrehenden Frauen! Immer hackt man auf den armen Frauen herum.

Ich: Du bist ja vielleicht nur enttäuscht, dass statt der geilen Frauen auf die du gehofft hast verhärmte Mörderinnen zu sehen waren. Soll ich vielleicht mal interpretieren: Vielleicht stellt der Film die beginnenden Subjektwerdung der Frau dar, du weißt, das Subjekt ist zuallererst und hauptsächlich Täter, denn das neuzeitliche Ich enthüllt oder konstituiert sich vor allem durch die Tat, zumindest sagt das Sloterdijk so. Die Frauen, aber dann auch die Arbeiter allgemein, ja besonders die, die verachteten Massen quasi, sie proben den Aufstand gegen die teils fremdverschuldete Unmündigkeit, nur, wie es unseren desillusionierten Zeiten zukommt, nicht mittels einer Revolution sondern eher einer Revolte, die das Verbrechen ist, ein hoffnungsloser Ausgang aus ihrer hoffnungslosen Lage, eine scheinbare Lösung also. Es bleibt ihnen nur sich zu rächen, an den Hochnäsigen, dem Bildungsbürgertum, und es ist ja eben umso pikanter als es Frauen sind, die man ja bis dahin, bis in die 60er Jahre und darüber hinaus, immer aufs neue versucht hat in die Opferrolle, also in die Passivität zu drängen, als Lustobjekte, Gebärmaschinen und Arbeitstiere. Ich weiss nicht warum der Film frauenfeindlich sein soll… eher das Gegenteil…. Die Frauen entziehen sich ihrer Bestimmung, hihi, ist das nicht lustig! Man muss in Hinkunft mit ihnen rechnen. Als ob das Ganze nicht eh schon kompliziert genug wäre, hihi! … Ausserdem habe ich mal einen sehr schönen Film von Chabrol gesehen, über so einen Studenten der zwischen drei Frauen steht …

H: Der ist wahrscheinlich viel besser als der da. Überhaupt diese langatmigen Erzählungen. Ach, diese erzählenden Filme! Heutzutage kann man doch keine erzählenden Filme mehr machen. Das ist veraltet, wie John Ford, pfui, was hat der im Filmmuseum zu suchen! Diese Trouffouts, Annauds etc. die taugen alle nichts. Von wegen Novelle Vague. Oder dein Film da über die Neandertaler, den du so magst … -

Ich: Ja! Guerre du feu! Am Anfang war das Feuer! Genial! - H lächelte:

H: Aber wir wissen ja, dass du keinen Geschmack hast! Wenn ich mich nur an diesen Film erinnere, den wir zusammen angesehen haben, wie hiess er: Matrix! – Ich konnte nur mehr ergeben lächeln.

Meister h mineur war im Kino; Im Filmmuseum um genau zu sein, die erste Anlaufstelle für den gepflegten Cineasten. Solche oder ähnliche Diskussionen pflegten oft auf seine Kinobesuche zu folgen. Anscheinend konnte auch Chabrol´s Kunst seiner Meinung nichts anhaben, dass die meisten Filme, aber auch Bücher, vor allem dicke Bücher, Zeitverschwendung sind, sofern sie nicht etwas Neues, Unerhörtes zu zeigen imstande sind, vorzugsweise einen Bruch mit der erzählerischen Kontinuität, einen gewagten sexuellen Umstand, oder ein wirkliches soziales Anliegen.

Seinen Hass auf Matrix teilte er mit seinem bevorzugten Regisseur: JL Godard. Dabei erinnerte sich h wahrscheinlich gar nicht mehr, wie bissig dieser in ´Ode an die Liebe´ die zwei Schulmädchen vorgeführt hat, die mit einer Petition von Haus zu Haus liefen um für die bretonische Synchronisierung von Matrix Unterschriften zu sammeln (ausgerechnet Bretonisch, das wäre, als wolle man Asterix auf Wienerisch herausbringen), während in der Haupthandlung von der Infamität Spielbergs die Rede war, der mit ´Schindlers Liste´ Millionen scheffelte, dabei die wirkliche Witwe Schindlers mit Almosen abgespeist hat. Die Arme, sie lebte ihre Tage weiterhin in Armut.

Mich machten Godards Filme, nun ja, nicht depressiv, man konnte nicht einmal sagen dass sie eine gemeinsame pessimistische Linie durchzog, es gab sogar sehr amüsante darunter, Komödien mit einem Hang zur Situationskomik, zum Klamauk, so wie die freie Interpretation von Dostojewskis Idiot, ´Wahre deine Rechte´, aber im allgemeinen hatten sie die Tendenz zu langweilen, denn es ging meistens um Geist, um Kultur, oft wurde das tägliche Leben der Intellektuellen beschrieben, der Kulturschaffenden, zumindest aber gebildeter Gesetzesbrecher, und ihre Verzweiflung an einer oberflächlichen Welt, die sie kühl und unpathetisch durchlitten. Das hat zweifelsohne seltenheitswert weil es selten gezeigt wird, nicht wirklich massenfähig ist, eher unverkaufbar, im Gegensatz zur Darstellung der Misere des Lebens in einem Drama, das auf effektheischerische Weise zu Tränen und anderen Formen des Gefühls rührt, indem es abgegriffene und schematische Methoden benutzt, wie man einem Vorurteil nach Hollywood gewohnt war zu unterstellen. Vierzig Jahre machte Godard seine etwas anderen Filme nun, aber erst vor kurzem wurde er einem breiteren Publikum bekannt, so wie etwa uns.

Wenn man Hollywood gegen Godard stellte, bzw. wenn sich Godard gegen Hollywood stellte, was er ausdrücklich tat, dann natürlich, musste man im Namen des Geschmacks, des Geistes Godard wählen. Einerseits. Aber wenn andererseits man so peinlich darum bemüht war schon im Leben das richtige zu wollen, zu tun, was ja nichts anderes bedeutete, als dass man sich eben vieles von dem versagen musste das man gerne getan hätte, sich mit Rücksicht auf die anderen hemmte, und auch in Hinblick auf die vielen eigenen, noch ungeborenen, womöglich andersartigen Ichs, zu denen wir im Verlauf unseres Lebens immer neu geboren werden, warum sollte man nicht wenigstens im Kino seinen Spass haben, und Aufregung? Kunst, denn zweifelsohne zählt Film ja auch dazu, als Medizin, denn ihre gestalterische Kraft war bei allem Respekt gering, ihr gesellschaftlicher ´Impact´ zu vernachlässigen, niemand stellte heute diese nüchterne Sichtweise ernsthaft in Frage.

Trotz mancher Unterschiede in unseren Interpretationen kam an diesem Abend keine streitlustige Stimmung auf. Hs Garconniere hatte ansonsten schon in vielen unserer Auseinandersetzungen als Setting gedient. Ich lehnte bequem in dem abgewetzten Couchsessel und hatte wie jedes Mal mein Dauerlächeln aufgesetzt, während h beim Schreibtisch auf einen Drehsessel über mir thronte und mich richtete. Ich betrachtete sein längliches, leicht sonnengebräuntes, rotgold schimmerndes Gesicht und versuchte herauszufinden, ob sein neuerdings verstärktes soziales Engagement frische Furchen darauf hinterlassen hatte. Es war schwer zu sagen, denn seinen Missmut über die Filmemacher lies es für den Augenblick verkniffen zurück. Aber ob seine Urteile über mich positiv oder negativ ausfielen, immer hielt sich auf meinem Antlitz tapfer und unentwegt eine grinsende Grimasse, auf deren Verzicht ich zwar schon so manches Mal, in einem günstigen und passenden Moment zu hofften glaubte, doch vergeblich, denn es schien als ob sie in gewissen sozialen Situationen unwillkürlich und zwanghaft auftauchte, untrennbar in meinen Körper, in meine Nervenbahnen eingeschrieben war, um nur ja mein Gegenüber zu besänftigen und für mich einzunehmen. Die alte kreatürliche Angst vor dem Sozialen. Dabei war hs Wohnung, war er, der Lehrer, der Kinderfreund, der Psychologe die denkbar beste Umgebung, um sich von alten Gewohnheiten zu lösen, um so viele unnotwendige Versteifungen und Verkrümmungen der vergangenen Sozialisationen endlich aufzugeben, und tatsächlich, wie viel von dem unnötigen Ballast hatte er nicht im Laufe der Jahre von diesem in ständigen Umbau befindlichen Schiff meiner Physiologie, dessen allzu schwacher Skipper ich ja war, geholfen über die Reling zu kippen, seit ich mich das erste mal bei ihm einfand, ständig bereit mich zu beklagen und mein giftiges Ressentiment abzuladen wenn ich mich von seinen Meinungen bedroht fühlte. Ich hatte es jedenfalls nicht länger notwendig mich wegen irgendwas zu verteidigen, sollte er doch weiter gegen die Filme wettern, doch sollte ich wieder verbal losschlagen, dann würde ich es lächelnd tun.

Ringsherum umgaben uns Regale, die von dem wilden Chaos eines Meers an nur teilweise geordneten Büchern durchflutet wurden, im gegenüberliegenden Eck beherrschte ein enormes Doppelbett mit weiteren, aufgeschlagenen Büchern an Bord das kleine Zimmer, wie ein in einem Flusshafen verirrter Ozeanriese, und in der Mitte hielt ein Teppich das Zimmer zusammen. H wechselte zusammen mit der Stimmung das Thema, die Sturmwolken verschwanden:

H: Schau, ich habe da einen interessanten Artikel von einem ehemaligen Berater der Sozis in Deutschland. Stand in der süddeutschen Zeitung. Die grosse Politik, mei Lieber: Da gibt es Sachzwänge! Putin muss das Land mit eiserner Faust regieren sonst versinkt Russland im Chaos. Und wie hätte Bush nach dem 11ten September denn anders reagieren sollen? Er musste angreifen, wie wäre Amerika sonst dagestanden, alle haben das von ihm verlangt! -

Ich: Gut, das kann man sicherlich so sehen. Aber ich habe geglaubt wir hätten uns schon früher einer differenzierteren Sichtweise angenährt. Demnach haben doch die republikanischen Falken gleich nach der Regierungsübernahme auf eine Gelegenheit gewartet um dort unten aufzumischen. Insofern war das Attentat eigentlich ein absoluter Glücksfall für sie. Was Besseres hätte ihnen gar nicht passieren können. Wollen wir das schon wieder unter den Tisch kehren? Also wie soll man sich folglich positionieren: Mit Hilfe der einfachen Rechnung nach welcher auf die verbrecherische Aktion die Reaktion folgen musste, oder doch aufgrund der komplizierteren Geschichte, die ihren Anfang spätestens 1904 nimmt, als die islamischen Staaten von England quasi mit Gewalt in den Weltmarkt hineingezwungen wurden, mit dem Resultat, dass sich ihre Renaissance des 19ten Jahrhunderts verflüchtigte und sie in der Folge zu Dependancen und Protektoraten Europas wurden, endgültig zu Menschen minderer Klasse gestempelt, da ihre Wirtschaft nicht der Rede wert war. Du erinnerst dich sicher an den entsprechenden Artikel im Lettre. Ich will hier auch kein muslimisches Drama aufrollen oder beklagen, mich interessiert allein die Vorgeschichte der gegenwärtigen Situation. -

H: Na lies mal den Artikel. Mich interessiert was du davon hältst. -

Ich wollte noch mehr zu hs Meinung bemerken. Dass nach dem Kulturtheoretiker Sloterdijk Politik heutzutage die Kunst ist vorzutäuschen, dass man noch handlungsfähig wäre, während in Wirklichkeit ein Dickicht von Interessensgruppen jede Aktion verhindert, wie Schlingpflanzen im Dschungel jedes mögliche Fortkommen erschwert. Wenn es nicht die Beamten sind dann die Konzerne, und wenn nicht diese dann die Umweltschützer, die Vereinigung der Gewerbetreibenden, der Mieter, der Autofahrer, die politische Opposition, die EU, die WTO, die Globalisierungsgegner, die Terroristen. Irgendwie war Bush schon eine Machete, hackte dort einen Pfad der Geschichte, wo doch in einer globalisierten Welt die Posthistorie Taten alten Schlags, sprich unilaterale, einseitige und meist gewalttätige Ausgriffe mit Erfolg unterbindet, beziehungsweise längst die Auswirkungen dieser Taten direkt an die Täter zurückspielt: Die Kriegsverbrecher erwischt es heute schon zu Lebzeiten. Nur wer bestimmt, wer das ist? Wieder hat es in Österreich ein Politiker vor einigen Jahrzehnten so schön auf den Punkt gebracht: Alles ist so kompliziert.

Ich verabschiedete mich. vielleicht hätten wir uns doch noch gestritten. Warum reizte es mich so sehr h zu widersprechen? Er meinte es wäre mein Widerspruchsgeist, ich wetzte meine Krallen an ihm, dieses ihm so vertraute Verhalten. Aber mein Ego wollte mehr darin sehen. Mir schien es berechtigt, hs gewohnheitlicher Weltanschauung immer aufs neue Risse zu versetzten. Bei ihm traute ich mich das, er war ein alter Hase, allein der enorme Altersunterschied zwischen uns gab mir die Sicherheit ihn nicht allzu sehr aus dem Konzept bringen zu können. H war das ideale Versuchsobjekt. Bei den Jungen traute ich mich nicht so recht, zerbrechliches Material, zersplittert wie Zuckerglas die Jugend. Ich konnte mich auch damit abfinden, dass die Egos in den weniger bevorrechteten sozialen Bereichen ausser Rand und Band waren, bei den Ungebildeten, den Chancenlosen, aber nicht bei der Bildungselite, nicht heute. Chabrols Thema: die Einbildung des Bourgeois. Dagegen half nur flach hämmern, platt hämmern das narzisstische Unterbewusste, wie ich nicht müde wurde meinen Lieblingsphilosophen Deleuze zu zitieren.

Der Weg zurück führte mich am MAK vorbei. Vis-a-vis bauten sie seit einem Jahr einen Kanal. Auf der Baustelle stand eine beeindruckende Installation: Die Containersiedlung. Mittlerweile 32 Baucontainer waren zu einem Arbeitsraum auf Stelzen aufgetürmt, darunter parkten die Autos und oben hat man noch eine grosse Holzbaracke draufgestellt. Ich liebte diese Container. Überall wo gebaut wurde standen sie neuerdings herum. Jedenfalls sehr praktisch für die Arbeiter; selbst als Wahlkampfzentrale hatte man schon eine ähnliche Konstruktion verwendet, die Sozialisten, natürlich.

In der Karlsplatzpassage trank ich einen Stehkaffee und beobachtete die vorüber ziehende Parade der Passanten, die sich in dem niedrigen, und an dieser Stelle ziemlich engen Gang aneinander vorbeidrängten; Opernwilde Japaner, einige Geschäftsmenschen und die kleinen Grüppchen derer, die diese Gegend zu ihrem verlängerten Wohnzimmer gewählt hatten, wodurch sie den knappen Raum noch um ein etliches verringerten: Trinker, heftige Drogenkonsumenten und Clochards. Der triste Eindruck, den sie machten wurde noch durch das Uringelb der Wände verstärkt. Während ich an dem hiessen Kaffee nippte und müssig meine Augen herumstreifen lies bemerkte ich ein interessantes Detail. Die Ablageflächen der fünf oder sechs öffentlichen Telephone, die an der Wand gegenüber dem Imbissstand hingen, waren durch schräg gestellte Metallplatten verschalt worden, sodass es unmöglich wurde, etwas darauf zu stellen oder sich zu setzen. Und tatsächlich sind dort immer einige dieser üblichen Verdächtigen herumgesessen. Was für eine interessante Methode der Behörden, wortlos das Verhalten der Unerwünschten einzuschränken und zu kanalisieren, dachte ich. Dann fiel mir ein Junger auf weil er ein bisschen zu wenig abgerissen wirkte. Geschäftig rannte er hin und her, eindeutig war er auf der Suche nach etwas, das man nicht in der Apotheke zu kaufen bekam. Ich erschrak, als ich plötzlich sein Gesicht sah, ich kannte ihn, der Freund eines Freundes. Etwas verwirrt durch diesen unerwarteten Eindruck trank ich aus und verliess schnell diesen Durchzugsort, den manche mit ihrem Vorzimmer verwechselten.

Als ich auf meinem weiteren Weg über dem Top Kino den Namen Zizek entzifferte, trat ich interessiert ein, suchte auf dem mit Drucksachen überfüllten Tresen das Programmheft und fand darin mit einiger Mühe, es war sehr voll und laut drinnen, die Beschreibung des Films, einer Dokumentation über den Psychologen und Philosophen Zizek, den aufgehenden intellektuellen Stern aus den neuen Ländern, dem ehemaligen Ostblock. Davon sollte ich h in Kenntnis setzen nahm ich mir vor, und erinnerte mich in der Folge auch manchmal daran, doch später vergass ich es wieder, und vielleicht spielte bei dem Versäumnis eine Rolle, dass ich Zizek eigentlich nicht mochte, er war in meinen Augen ein Denker aus der Vergangenheit, benutzte die schwerfälligen Sprache der Dialektik, des Gegensatzes, und der Psychologie Lacans, dieses angeblich modernen Freuds, obwohl ich, wenn ich doch etwas von ihm las, erstaunt war, wie schön und treffend man sich auch in einem veralteten Stil ausdrücken konnte, ganz so, als ob eine Wahrheit doch immer wahr bliebe, und nicht erst durch den richtigen Gebrauch der richtigen Worte an Leben und Kraft gewönne.

Aber letztens hatte er einen Artikel in Lettre International so richtig verpatzt. Das Thema war der dritte und letzte Teil der neuen ´Krieg der Sterne´ Filme. Dieser sollte eigentlich die Krönung der sechs Filme langen Saga von Georg Lucas sein, doch was für eine Enttäuschung war es für viele Fans. Die abschliessende Episode III hatte den schalen Geschmack alter Mantel und Degen Filme, strotzte vor schlechten Witzen die von den Schauspielern präsentiert wurden, als ob sie sich über das Ganze nur noch lustig machten, hatte einige ernsthafte Mängel im Handlungsablauf und man sah dem zerstückelten Werk überdies allzu deutlich an, dass es grösstenteils vor Bluescreen gefilmt worden war und die Umgebung erst im Nachhinein im Computer hinzugefügt wurde, dazu in winzigen Bruchstücken aufgenommen, lauter abgefilmte Szenchen und Halb- und Viertelszenen, was die Schauspieler an einer elementaren Kontinuität der Darstellung gehindert hatte; mit einem Wort, eine Farce.

Aber das alles war kein ausreichender Grund für den unfundierten und polemischen Artikel von Zizek, der, bewehrt mit seiner Schmierfeder, wie ein Kirchenvater gegen die Hybris einer gottlosen Zeit, gegen den eigentlich recht banalen Unterhaltungsfilm zu Felde zog. Er startete seinen Angriff mit der Verdammung der New Age Kultur, um im selben Zug den Zen, dieses bekannte Kind des Buddhismus, über den Kamm der eitlen Jugend- und Unternehmerkultur zu scheren. Das reizte mich ein wenig, war ich doch ein guter Kenner und Bewunderer von Zen. Sein Hauptargument war, dass eine Religion, dass er Zen dafür hielt konnte man nachsehen, denn er argumentierte von der ihm bekannten Warte des Christentums aus, die den Japanern damals als Kriegsideologie dienen konnte schlicht weg indiskutabel sei. Aber was war denn das für ein Rückgriff auf längst abgebüsste Zeiten, auf einen bedauerlichen und überdies recht punktuellen Irrtum? Konnte man nicht mit gleichem Recht über die Heuchelei eines jeden beliebigen Krieges in Europa spötteln, wo derselbe Gott scheinbar auf beiden Seiten der Frontlinie die Kämpfer mit Trost und neuem Mut erfüllte, gespendet von den Feldgeistlichen, diesen skurillsten seiner Stellvertreter auf blutgetränkten Erden? Weiter liesst man, die Jedi-Ritter als dieses falsche, weil am Zen orientierte Ideal, seien darüber hinaus ein reiner Männerklub. Nun spielt sicher keine Ritterin eine grosse Rolle in Lucas Machwerk, doch gerade die Episode III zeigt gleich mehrere Frauen in der Ordenskluft, sprich mit einem Lichtsäbel bewehrt. Und tatsächlich ist in Lucas Vorbild, dem Wüstenplaneten, der Orden ausschliesslich Frauensache. Dem Stil des pamphletischen Textes angemessen schliesst der gute Zizek die Sache mit einem frommen Wunsch ab: Man möge beim Stand der Dinge doch lieber beim Christengott bleiben.

Von allen argumentativen Schwächen und offensichtlichen Fehlern des Artikels störte mich vielleicht am meisten der Mangel an Toleranz, der sich sowohl in der Kritik von Starwars im Speziellen, wie an der New Age Kultur im Allgemeinen zeigte. Bei der Verteidigung seiner Religion bemerkte Zizek nicht, dass er bemüht war einen Gegensatz konstruieren wo gar keiner bestand, gehört es doch zum Wesen von Zen, war es vielleicht sogar zum Teil verantwortlich für seine Erfolge, nicht ausschliessend zu sein und andere Anschauungen zu integrieren. Letztlich konnte man Christ sein und trotzdem Zen praktizieren. Doch den Ausweg aus dem Entweder-Oder, der dualen Logik, den hatte der gleichaltrige Slotterdijk für seine Generation, trotz mancher Vorarbeiten, als Ding der Unmöglichkeit bezeichnet, über das man sich höchstens auf theoretische Weise wundern könnte, wie über ein seltsames Tier aus einem fremden, weit entfernten Kontinent, den zu bewohnen man nicht mehr erhoffen konnte.

 

Bei mir angekommen holte ich den zusammengefalteten Zeitungsartikel aus der Tasche, den h mir mitgegeben hatte: ´Wenn ich iranischer Politiker wäre …´ - sehr politische Sprache dachte ich, schon im Titel die Möglichkeitsform. ´Der Aussenpolitiker und Ostexperte Egon Bahr zu den Chancen des Weltfriedens und den Machtspielen der Grossen´ - Ich musste lachen, h war beim Erzählen so begeistert gewesen, und wie oft schon hatte er, mit einem zwinkernden Auge, von sich behauptet, dass er immer wieder einen Grossen eine zeitlang vor sich aufs Podest stellte um ihn zu bewundern. Aber gleich beim ersten Absatz ergriff mich eine milde Aggression: ´Es hat lange gedauert, bis man eingesehen hat, dass es in Tschetschenien Terrorismus gibt, richtigen Terrorismus.´ - Terrorismus, klar, weil es Moslems sind, aber ist nicht auch Jugoslawien zerfallen, sind nicht Weissrussland und das Baltikum unabhängige Staaten geworden, liegt der Fall hier anders? Ich las weiter und mein Widerstand löste sich auf, wurde sogar zu einem Wohlgefühl, als ich eine bemerkenswerte und oft unterschlagene Meinung wiedererkannte, und zwar, dass ´die Amerikaner in Russland eine extreme Form des Liberalismus erprobt haben … deren Rezepte in Amerika selbst natürlich nicht angewandt wurden... De facto ist das Wort Demokratie diskreditiert, weil es mit Not, Elend und Korruption gleichgesetzt wird.´ - Ein schöner Artikel befand ich, über unschöne, wenn auch nicht unmittelbar bedrohende Angelegenheiten. Zumindest eine Gefahr für den Weltfrieden beschwor dieser Friedensforscher an keiner Stelle.

 

Jo Schnellzuträger schaute vorbei. Er brachte Ran zurück, Kurosawas asiatische King Lear Version. Hat ihm gefallen. Unvermittelt sagte er:

Jo: Die heutigen Filme erzählen überhaupt keine Geschichten mehr. Es wird nichts erzählt. Sie starten irgendwo und hören irgendwo auf. Es ist ganz beliebig. -

Ich: Ich weiss. Das ist modern. Der Doku –Stil. Ich glaube, zur Zeit sind mir die Filme der Coen – Brüder am liebsten. Ich habe mir letztens wieder einmal Big Lebowski angeschaut… -

Jo: Naja, die machen Märchen… -

Ich: Ja! Und sie wissen wie gut sie sind! Schau, ´O Brother where art thou´ ist ihre Version der Odyssee, wie es im Vorspann lautet. Kein kleines Vorbild, gell? -

Jo: Nein … Ich steh gerade auf die asiatischen Filme… -

Ich: Takeshi Mick, du hast erzählt, aber ist der nicht ziemlich brutal und grausam? -

Jo: Takashi Mi-ke. Nun ja… es passiert zumindest was. -

Er inspizierte meine Filmsammlung während er meinte:

Angeblich kann man ja nach den Filmen einer Person auf ihren Charakter schliessen. – verlor aber bald das Interesse als ich nicht erpicht schien, meinen Charakter deuten zu lassen.

Bald war er wieder weg. Ich fühlte mich ein wenig zerrissen. H beklagte sich über die Geschichten, Jo über ihr Fehlen. Es kam mir so vor, als ob ich ständig ganz widersprüchliche Meinungen über scheinbar dieselben Dinge zu hören bekam, manchmal sogar über dieselben Menschen. Und wurden wirklich keine Geschichten mehr erzählt? Sollten noch Geschichten filmisch erzählt werden? Amerika zumindest war voll davon. Hollywood. Washington. Burn Hollywood.

Eine meiner Lieblingsstellen in Big Lebowski ist sehr amerikanisch. Der Antiheld Lebowski, Dude genannt, sieht in der kleinen Fernsehkiste seines Bowlingschuppens zufällig mit welchen Worten Bush senior 1991 den Krieg gegen den Irak ankündigt: This aggression against Kuwait will not stand. - Und gleich darauf, als er sich beim anderen Lebowski wegen der Schläger, die auf seinen Teppich gepinkelt weil sie ihn mit diesem verwechselt haben, beklagt, benutzt er dieselben Worte: This aggression will not stand! Diese kleinen Details machten mir viel Spass.

Vor einigen Tagen hatte ich schon eine Kinodiskussion gehabt, mit Marcus:

Er: Als ich Terminator 2, Erbarmungslos und Brazil in der süddeutschen Filmkollektion versammelt sah, da habe ich zum ersten Mal gedacht, dass ich vielleicht doch keinen schlechten Filmgeschmack habe, denn diese Film zählen alle zu meinen Favoriten! -

Ich: Du hast eh einen guten Geschmack. - er glaubte mir nicht, dass ich es ernst meinte:

Du hast aber einen Schlechten! - versetzte er, kurz wusste ich nicht genau ob ich mich ärgern oder schmunzeln sollte:

Eh nicht. Bei mir geht´s auch nicht um Geschmack. Mich interessiert etwas anderes. -

Was, sagte ich nicht. Über Geschmack zu streiten fand ich geschmacklos und banal, und jedenfalls zeugte es auf meiner Werteskala von schlechtem, seinen zu verteidigen, höchstens konnte man damit Gesinnungsgegensätze und zwischenmenschliche Sprengfallen scharfmachen. Warum ist man immer so knauserig mit dem Nachgeben vor fremden Meinungen und der Liebenswürdigkeit, die einem Wortspiel zufolge angeblich nichts kostete, aber in Wirklichkeit die sorgsam gehütete Meinungsdominanz aufs Spiel setzte.

Das war sicher eine grobe Vereinfachung, doch statt Dominanzspielchen dachte ich lieber an das Glück, in den Filmen die verschiedenen englischen Dialekte zu hören zu bekommen. Der schleppende Tonfall der Südstaaten der USA allein genügte um mich tagelang zu beschäftigen. Oder erst der unerhört hochmütige Tonfall der Briten, der zusammen mit ihren Filmen so selten war. Und welches Erstaunen sich meiner bei Tolkien bemächtigte, zu erleben wie die australischen Schauspieler dem Herrn der Ringe allein durch ihre Variante des Englischen ein beinahe mittelalterliches Gepränge verliehen, das war, nun, zumindest ein unerwarteter und willkommener Nebeneffekt der neuseeländischen Abstammung des Regisseurs. Es schien ich lebte weniger mit Deutsch, der herrschenden Sprache des von mir bewohnten Staates, sondern im Commonspeak, dem Teil des Commonwealth der sich am längsten erhalten hat, einem weiteren Scherz von Sloterdijk zufolge. Wie sollte aber Marcus beispielsweise diesen Aspekt des Filmgenusses verstehen, wenn er sich englische Filme auf Deutsch anschaute, wenn doch deutsche Untertitel genügen würden.

Übersetzungen waren sicher notwendig, aber die richtige Sprache zur richtigen Kultur war deswegen nicht weniger notwendig, vielleicht für einen Film wichtiger als für ein Buch, liessen doch die Bilder weniger Spielraum für eine Täuschung über die dargestellte Kultur. Wie glaubwürdig stellten sich Hip-Hopper aus der Bronx dar, die auf deutsch redeten; oder die Grimm-Brüder englisch? Sicherlich, Film ist ein grosses Geschäft, da bedeutet es viel ob es eine Synchronisierung in die Landessprache gibt, ich verstand weiter, dass man auch bei der Übersetzung von Filmtiteln oft Kompromisse machen musste, wegen anderer schon erschienener Titel oder um eine Anspielung der jeweiligen Kultur anzupassen etc., aber man schaue sich nur deutsche Versionen von Luis de Funes Filmen an, die haben um ein Drittel mehr Text als die Originale, und es sich nicht immer die besten Passagen die ´hinzu übersetzt´ wurden. War ein weniger sprachfreudiger Luis für die Deutschen nicht zu haben gewesen? Und was hatte der Titel ´Hunde, wollt ihr ewig leben?´ ausser dass es schon einen deutschen Film mit demselben Titel gibt, ´Deer Hunter´ voraus? Es war wahrscheinlich damals die Zeit. Man erinnere sich nur an die ´lustigen´ begleitenden Kommentare der Tiersendungen aus den 80er Jahren, von der Art: Und da bringt der Mistkäfer seine dicke Kugel nach Hause, hoppala, wo will sie ihm da wegrollen, ja das passiert wenn man rückwärts geht, da stolpert man leicht in die Falle des Ameisenlöwen!´ … Schliesslich wundert man sich damals ja auch über die aufgezeichneten Politikerreden aus den 50er Jahren, die von einem Pathos erfüllt sind, der uns heute misstrauisch werden lassen könnte.

Während ich darüber nachdachte kam mir der morbide Gedanke, dass Synchronisation, also Dubbing eine Provokation ist, eine Kriegserklärung an die fremden Länder, deren Bilder und Geschichten man sich zwar aneignet, deren Sprache, die doch nach wie vor der eigentliche Kulturträger ist, man jedoch ausblendet und abwürgt. Bloss nicht zu viele fremde Einfüsse. Denn unterscheidet sich nicht jedes Dorf ausser durch in seiner Tracht vor allem in seinem Dialekt von den Nachbardörfern, diesen potentiellen Feinden? Ist nicht gerade die Sprache der Anderen für uns ein Grund zu Hohn, eine ständige Quelle an Missverständnissen? Bedeutet Huren nicht Vermieten auf Dänisch? Dawaj auf Russisch geh, auf Polnisch aber gib? Auch der Turmbau zu Babel mag vielleicht in Wirklichkeit die Konkurrenz des antiken Bauwesens mit den Göttern selbst zum Thema gehabt haben, aber kennen wir nicht vor allem die babylonische Sprachverwirrung? Aber ist es auch irgend jemandes Schuld, dass es knapp sieben Tausend echte Sprachen gibt?

Was hat uns so entzweit, war es nicht vor allem die Sprache, waren wir nicht vorher Geschwister? - Ein abgewandeltes Filmzitat, ich weiss, geäussert von einem amerikanischen Soldaten des zweiten Weltkriegs, auf einer der paradiesischen Inseln des Guadalkanals, welches zudem wenig besagte, denn sind nicht auch Hundewelpen Geschwister, was sie nicht hindert sich gegenseitig um den Zugang zu den mütterlichen Zitzen tot zu strampeln? Und sollte ich die Odyssee auf Deutsch lesen oder auf Englisch, in der Übertragung von Samuel Butler, dem Erfinder des sagenhaften Erowhon?

Spielte sich letztlich im Streit um die Sprachen nicht ein Stellvertreterkonflikt ab, der einen weitaus grösseren kaschieren sollte, nämlich die mangelnde Kommunikation und Korrespondenz der menschlichen Geister? Es sprach doch jede Seele eine andre Sprache, unverständlich für die anderen, aber vor allem unhörbar. Auch das ist eine allzu bekannte Plattitüde, zugegeben.

Aber wer sich über die Zwietracht in der Welt noch beschweren konnte, wäre vielleicht ausser Stande zumindest im Eigenen eine Besserung zu erwirken. Zerfallen zu sein oder sich über den Zerfall zu beschweren waren weniger verschieden als man gemeinhin annahm, beides zeugte von einer Abwesenheit von Toleranz und Verständnis. Die Unmöglichkeit dem Gegensatz in all seinen Formen auszuweichen, das zerrte an meinen Nerven, diesen zur Bewegung, zur Reizleitung geschaffenen Fasern, die im Grunde zum einfachen Zuschlagen geeigneter sind als zum Nachdenken.

Denn durfte man weiters überhaupt Eintracht verlangen, war das nicht eine dieser menschlichen Illusionen, so wie die Vorstellung der Unendlichkeit, möglich da denkbar?

 

Am Abend hatte ich diesbezüglich ein Gespräch mit Helm. Da ich weder Zeitungen las noch einen Fernseher besass, war ich in Bezug auf Nachrichten auf meine Freunde angewiesen. Helm sprach gern über die neuesten Trends und Entwicklungen, man merkte förmlich, wie er alles in sich aufsog und verarbeitete. Ich wartete auf ihn mit Ungeduld bei der Tür, nachdem ich ihm an der Sprechanlage geöffnet hatte, und spielte währenddessen mit mir das Spiel, ihn nicht in Gedanken anzutreiben: Nur nicht hetzen. – dachte ich. Es erschien mir jedes Mal unpassend, seinen Freunden zu befehlen, sei es auch nur zur Eile, und im Geiste.

Und da ich mich bei diesen Gedanken ertappte dachte ich gleichzeitig, was es doch für eine Erschwernis bedeutete, wenn man sich der meisten Gedanken, die ja die unangenehme Gewohnheit hatten sich ohne vorherige Ankündigung einzustellen, bewusst war und so penibel vor sich Rechenschaft darüber ablegen musste.

Gleich nachdem Helm bei der Tür hereingekommen war, platzten er auch schon mit dem Neuesten heraus:

Bush droht dem Irak mit einem Atomschlag! – Ich versuchte, nicht allzu überrascht zu wirken. Wir versuchten uns gegenseitig in der Gleichgültigkeit dem Weltgeschehen gegenüber zu übertreffen. Ich betrachtete mit Wohlgefallen sein glatt rasiertes Kinn, seine Haut wies keinen einzigen Pickel auf, gut geht es ihm, alles in Ordnung, dachte ich.

Ich: Drohen heisst noch lange nicht, dass man bereit ist das auch auszuführen. - Ich spielte die Stimme der Vernunft: Und wenn schon, da es ja anscheinend allen nach Krieg und Katastrophen gelüstet? Die Stimmung ist so aufgeheizt, dass man sich immer öfter über Gesetze, über allgemein akzeptierte oder erkämpfte Regeln hinwegsetzen kann. –

Helm: Mir wäre das eh egal. Überhaupt betrifft es uns ja nicht. Weißt du, warum um den Iran so hoch gepokert wird? Es ist nicht so sehr das iranische Öl, es ist der persische Golf, durch den der Grossteil des restlichen Öls geschippt wird. Wenn die Meerenge beim Zipfel der arabischen Halbinsel, Jemen ist dort glaube ich, bombardiert werden kann, ist es aus mit den Öllieferungen. -

Ich: So ist das also, da schau einer an! -

Helm: Ich bin sowieso überzeugt, dass es früher oder später zu einer Katastrophe kommen wird. Und das ist an und für sich nichts Schlechtes, sondern eher natürlich, weil anders wird sich nie etwas ändern. Die Menschen machen weiter bis es nimmer geht, und wenn's dann kracht, selbst dann werden noch einige daran verdienen. - Helm sagt das durchaus ernst, ich musste aber sehr über seinen bitteren Scherz lachen. Helm war wahrlich kein Kulturoptimist.

Und, - setzte er fort, Ich verstehe einfach nicht, warum du überhaupt so kategorisch Frieden verlangst. Es gab noch nie viel Frieden auf der Welt, das ist einfach keine Option! Wenn überhaupt kann man Menschen nur durch Belohnungen dazu überreden, etwa durch den Glauben an ein Jenseits, an die karmische Auswirkung von Taten, an Wiedergeburt. Warum sollte jemand tugendhaft sein, Meditieren, Erleuchtung und Erkenntnisse anstreben, wenn nicht um erlöst zu werden? Wie sollten wir denn friedlich sein, bei unserem Nervenkostüm? Hättest du so viele psychologische Bücher gelesen wie ich hättest du einen realistischeren Standpunkt! -

Ich: Also ich kann darauf nur ganz einfach sagen, dass ich nicht gestört werden will. Wenn ich schon auf der Welt bin, warum sollte mir dann auch noch eine menschengebaute Bombe auf den Kopf fallen können? Die Naturkatastrophen, Unfälle und etwaige Überraschungen die die Welt so für unsereiner bereit hält genügen doch! Du weißt, heute wird selbst das schon unter dem Begriff ´Schurkenereignis´ zusammengefasst, wie (Baud….) scherzt, die ´Schurkennatur´ sozusagen. Aber es stimmt schon, ich plädiere rein subjektiv… -

Helm: Das ist doch egoistisch, irgend so eine unausgegorene Verdrehung von Kants kategorischem Imperativ die du dir einbildest. - Helm lächelte ironisch.

Ich: Mehr kann ich gar nicht wollen, mehr will ich auch nicht, nur eine soziale Rechfertigung der Ordnung, das muss genügen. Zen hin oder her. -

Helm: Du bist fantasielos. Wir haben ganz unterschiedliche Auffassungen! – Es klang wie eine Frage.

Ich: Das stimmt. – Ich gab nicht nach.

Helm macht sich etwas abrupt auf den Heimweg, wie üblich zwar, aber eine leichte gegenseitige Abkühlung bei den letzten Sätzen war unübersehbar gewesen. Ich schloss die Tür und machte mir Vorwürfe ihm frontal widersprochen zu haben. Ich verspürte sehr deutlich die Angst, dass er sich länger über mich ärgern könnte und beim nächsten Treffen weniger gesprächig sein würde.

Um aber auf die Streitfrage zurückzukommen: War es nicht einerlei, ob man glaubte, durch Religionen würden sich die Menschen ändern, durch Einsicht in die sozialen Notwendigkeiten, oder durch das Streben nach persönlicher Bereicherung? Alle Möglichkeiten waren unter bestimmten Umständen nicht von der Hand zu weisen, wurden vielmehr Realität, doch konnte man nie im Voraus sagen, wer wann welche Wahl treffen würde, wenn überhaupt. Es gibt da einen Satz des Philosophen Deleuze, den ich zunächst Schwierigkeiten hatte zu verstehen: Eine neu entstandene Herrschaft kümmert sich nicht zuerst um Gesetze, sondern um Institutionen. Diesen Satz befand Deleuze anscheinend deswegen für bemerkenswert, weil unser gesunder Menschenverstand sich von der Majestät von Gesetzen, von öffentlichen Verlautbarungen und grossen öffentlichen Gesten so leicht blenden lässt, vielleicht weil die menschliche Wirklichkeit in so hohem Grad sprachlich organisiert ist. Das prominenteste Beispiel dafür sind heute die von der Aufklärung verlautbarten Menschenrechte, diese so schlecht eingehaltenen Gesetze, die 200 Jahre danach weit davon entfernt sind auch nur annährend für alle Menschen zu gelten. Die schlecht exekutierten Menschenrechte, ätzte Deleuze.

Und so sind auch die Überlegungen, in denen wir uns ergehen, wenn wir auszumachen versuchen nach welchen Regeln die Menschen am besten ticken würden, zwar ein einfaches und seit Urzeiten geübtes Mittel gegen die Langweile und den Missmut, aber angesichts der suboptimalen Bedingungen unter denen wir leben doch vollkommen zahnlos, im Gegenteil verschärften sie oft nur die Kluft zwischen den Menschen und ihren zahllosen Weltanschauungen. Sind Handlungen die die Menschenrechte missachten prinzipiell schurkisch, zum Beispiel die Beschneidung der Meinungsfreiheit, die Verfolgung Andersgläubiger, oder sind diese Rechte selbst nicht viel zu leicht missbrauchbar, etwa in dem man sie als moralisches Feigenblatt benutzt um damit anderen ihr Leben vorzuschreiben?

Die Situation in Russland ist kompliziert, erklärt uns der deutsche Expolitiker dessen Artikel ich gerade eben gelesen habe. Die Demokratie, die allgemein mit den Menschenrechten gleichgesetzt wird, ist dort in Misskredit geraten, weil unter dem Deckmantel der Freiheit ein Land ohne funktionierende Institutionen, die diese Freiheit hätten durchsetzen könnten, als Experimentierfeld für einen billig verstandenen Sozialdarwinismus freigegeben worden war. Dann kam Putin und stärkte die bestehenden Strukturen, den Staatsapparat, das Militär und führte unter den misstrauischen Blicken der so genannten freieren Welt das Land angeblich aus dem Chaos, in das es zu versinken drohte. Das mag ein Rückschlag für die Menschenrechte gewesen sein, bewies aber das Funktionieren von Institutionen, welche Gesetze eben oft ziemlich willkürlich und erst im Nachhinein zu satzen pflegen. Ich fragte mich, wie viele kleine Leute mit der Inhaftsetzung dieses russischen Ölbarons X zumindest im Stillen einverstanden waren. Ist er wegen der Gesetze verhaftet worden, oder weil jemand es für richtig befand sie durchzusetzen, wenn nicht gar Neue zu schaffen.

Oder noch ein Beispiel. Was nützte die Verbreitung des Wissens um eine Lebensführung, wenn unterdessen an derselben Stelle eine gänzlich andere im grossen Zuge institutionalisiert wurde? So kann man lange predigen, dass eine Diät aus Fastfood und Softdrinks zu Beschwernissen im Alter führt, gelinde gesprochen, doch sind Firmen, die in Schulen Getränkeautomaten aufstellen und die Kantinenversorgung übernehmen, ein weitaus gewichtigerer Faktor in der Vorstellungswelt der Betroffenen, welche andernfalls, sollten selbst die Gesetze der Ernährungswissenschaften bei ihnen ankommen, doch gezwungen wären, sich ihre Pausenmahlzeit anderweitig zu organisieren oder mehr Steuern oder Schulgeld zu zahlen um die ausgewogenen Malzeiten auch finanzieren zu können. Aus ähnlichen Gründen wird ja auch schon seit Jahren um die Werbeflächen der Tabakindustrie gestritten. Wie man sieht hat die Institution immer recht weil sie zuerst kommt, und zwar zunächst bar aller Gesetze. Sie hat wahrhaftig die Positivität auf ihrer Seite, in der wortwörtlichen Bedeutung einer bestehenden, sichtbaren und wirkkräftigen materiellen Position.

Und genau deswegen war es müssig darüber nachzudenken, auf welche Weise, nach welchen Gesetzen wir denn leben sollten. Zunächst einmal wollte ich mir anschauen, wie wir denn tatsächlich leben, in welchen Institutionen.

Mit einem Wort, ich hielt, philosophisch verdorben wie ich war, Wörter und Parolen für Schall und Rauch, Lebensanschauung und Werturteile aber für schlechte Witze. Anstatt mich damit zu befassen schöne Phrasen zu drechseln, gar ´Geschmack´ zu entwickeln, wollte ich doch lieber versuchen einen Weg vorzeichnen, auf dem eine grösstmögliche Zahl sich den Lebensbedingungen des anarchistischen Bankiers aus Fernando Pessoas gleichnamiger Erzählung bestmöglich annähren konnte, eines wahren Anarchisten, diesem Ideal des neuzeitlichen Tätersubjekts, da ihm seine Mittel die grösstmögliche Freiheit, innerhalb der Grenzen der bestehenden menschlichen Realität, zu verwirklichen gestatteten.

 

Denn was sollte man schaffen in der Theorie, in der Kunst, was sollte man beschreiben, das nicht schon in dieser oder jener Form ausgewalzt worden war? Eine originale Welt, ich weiss, die innere Welt, den nur das Innere eines Menschen war es wert beschreiben zu werden, nur was niemand sieht ist interessant. So viele originale Bücher es gibt, so viele originale Welten, und gäbe es sie nicht würden wir nur eine originale Welt kennen: unsere eigene. Stimmt, aber andererseits, gab es nicht schon genug beschriebene Welten? Was war den normalerweise die Quintessenz einer solchen Welt? Sie ist in der Regel eine Anklage, in der Form einer Bestandsaufnahme der menschlichen Misere, oder was wir gewohnt sind als solche zu fühlen, durch die Wert-, und Vorurteile, durch welche man sich erst hindurch wühlen muss. Und so viel Platz nehmen die Ungerechtigkeiten ein, die Lächerlichkeiten, das Unverstandenwerden der künstlerischen Seelen, denn deren originalen Welten finden wir ja beschrieben, in Opposition zu einer Realität die damit nichts anzufangen weiss, sie im schlimmsten Fall sogar verlacht und ignoriert. Im besten Fall ringt sich der Künstler ein wenig Humor ab, der dieses schwere Gericht verdaubarer macht.

Meistens aber bleibt das Handwerk des ernsthaften Schriftstellers ein dreckiges, da es den menschlichen Schmutz aufnimmt und sich und andere damit bewirft. Aber wenn auch alles wahr ist, wenn diese Anklagen auch alle stimmen, warum glauben wir sie machen zu sollen? Besteht ernsthaft ein Grund dafür? Oder, wenn Gründe bestanden haben, sind sie weiterhin gültig, auch heute?

Wenn wir bei dem Versuch diese beiden Fragen zu beantworten von hinten nach vorne vorgehen, dann könnten wir zunächst die letzten Frage bejahen. Vorausgesetzt die Gründe für eine Anklage waren schon von je her da, dann sind sie auch heute noch gerechtfertigt, sogar gerade heute, denn die Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung sind in letzter Zeit explodiert, und da sich ändert was beobachtet wird, müssen wir davon ausgehen, ohne es beweisen zu können, das sich die menschliche Realität in letzter Zeit enorm verändert hat. Die Instanz die Beobachtung verarbeitet, das Grosshirn, profitiert von dieser Situation am meisten. Und das ist auch das Problem mit der Psychologie, welche sich ja mit den älteren Schichten des Bewusstseins beschäftigt. Während man versucht die vormenschlichen Konstanten des Menschlichen zu entziffern und zu manipulieren, kann man leicht vergessen, dass diese von oben, von der Kultur, in jedem Individuum sehr stark beeinflussbar werden. Während man also vorgibt den Menschen zu beschreiben, versucht man, nicht zuletzt gesteuert durch eine dieser Konstanten, nämlich Dominanz über andere zu erlangen, den Menschen festzulegen, festzuschreiben indem sie die zeitgebundenen Ergebnisse ihrer Analyse vorlegt und sagt: So ist der Mensch. Die Psychologie, könnte man argwöhnen, will uns auf unseren in der Vergangenheit erarbeiteten Plätzen festnageln.

Da natürlich kommen die schriftstellerischen Aufstände zupass, die, in dem Bestreben original zu sein, sich gerade um die Beschreibung des Aktuellsten, des Zukünftigen bemühen, mögen sie auch anklagen so viel sie wollen.

Aber, um zur ersten Frage zurück zu kehren, ob die Anklage, das Gejammer prinzipiell sinnvoll ist. Ich glaube nein. Denn es stellt die Angeklagten, sei der Ankläger inkludiert oder nicht, unschuldig an den Pranger. Denn erstens gibt die Anklage wieder einem dieser alten Punkte, die sie ja anklagt, statt, nämlich einen Schuldigen zu suchen, einen Sündenpunkt zu machen, einen Sündenbock über die Klinge laufen zu lassen, und andererseits kann man, unter Berücksichtigung dieses Punktes auch sagen, dass sie ins Leere läuft, denn die Angeklagten sind schuldlos. Mögen sie auch noch so schlimme Verbrechen begangen haben, in letzter Konsequenz wussten sie nicht was sie taten. Deswegen werden ja auch Religionen gegründet. Aber obwohl diese Sichtweise nicht zu denjenigen gehört, die sich leicht erarbeiten lassen, der allgemeinen Unschuld nämlich, der die Umstände dermassen widersprechen, kann man die Anklage auch aus einem leichter verdaubaren Grund fallenlassen: dass sie nicht förderlich ist. Wer anklagt, kann mit gutem Recht letztlich nur sich selbst anklagen, dass er anklagt. Das wäre die Aufgabe eines Künstlers, selbst auf die Gefahr, dass er sich damit selbst hemmt.

Diese etwas wirren Gedanken waren ein Resultat meiner philosophischen Beschäftigung. Sie waren vielleicht nicht hieb- und stichfest, doch ich fühlte, dass ich nicht mehr dahinter zurückgehen konnte. Ich musste vorwärts drängen, von der Theorie zur Praxis gelangen.

Ach, die Kunstwerke, sie waren gut, zum, na ja, als Beilage zum nächsten Snack. Nach dem langen Tag suchte ich in meinem Archiv nach der passenden Unterhaltung für mein Abendmahl. Es war jedes Mal eine lange Suche denn ich hatte die Filme wieder und wieder gesehen. Ich gelangte zur Si-Fi Abteilung: vielleicht sollte ich es mit Matrix versuchen, dieser furiosen Anklage der menschliche Kondition?

b_ryz@yahoo.de

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