Der Telepath

Spätestens nachdem ich Student geworden war, gewöhnte
ich mir an, unter freiem Himmel prinzipiell eine
Kopfbedeckung zu tragen. Das war ein normaler Usus
unter meinen Kousins, und schon früher hatte ich hie
und da, oft, Kappen getragen, Barets probiert, alles
unter ihrer liebevollen Aufsicht. Für Berets war mein
älterer Kousin, ein grosser Fan des "Green Beret"
Spiels zuständig, für Kappen mein jüngerer. Nie werde
ich meine Larry Bird - Kappe vergessen, die er geerbt
hat. Eigentlich war ich von Berets mehr eingenommen,
doch fand sich nie ein passendes, und extra habe ich
mir nie eins gekauft. Erst beim Bundesheer durfte ich
als Jäger endlich mein "Green Beret" tragen, doch
Ironie des Schicksals, hatte ich dort immer mit den
Kopfbekleidungen zu kämpfen. Sei es weil wir eine
kleine Kaserne in Kagran waren oder aus anderen
Gründen, während meines gesamten Präsenzdienstes fand
sich nie ein Kappe, die ganz auf meinen Kopf gepasst
hätte, ausser sie war dehnbar. Ich vermute aber, dass
die Bekleidungs-UOs genau meine Eitelkeit gespürt
haben und mir deswegen ständig Kappen gaben, die zu
klein waren. Ich trug sie dennoch mit dem ganzen
Stolz, den ich ob dieses Schönheitsfehlers imstande
war aufzubringen. Deleuze jedenfalls, der Vampir, war
der Philosoph mit dem Hut. Und den langen Fingernägeln.
(Die Kappen waren mitunter ein wichtiges Versatzstück
für den Unfug der Alltagstelepatie. Ein Gefühl.)
(Ein Student, in einer Zeit der mässig betriebenen
Menschenrechte, begann um seinen Verstand zu
fürchten.)

Erstes Erlebnis

Als ich das erste Mal so unsanft aus meiner sicher
scheinenden Festung der eigenen, ganz privaten
Gedanken gerissen wurde, dachte ich mir nichts dabei.
Schwerlich konnte ich damals schon daran gezweifelt
haben, dass Gedanken frei sind. Es geschah eines Tages
auf der Strasse am Nachhauseweg, dass ich mir mal
wieder über das Wesen und die Natur der Menschen
ungerichtet Gedanken machte, als mir der Satz durch
den Kopf ging, ich wunderte mich so manches mal:
“Die Menschen sind doch komisch.“. Und gerade in dem
Moment rief sichtlich erbost ein Mann, der sich auf
der anderen Strassenseite an einem Kleinbus zu
schaffen machte, aufschauend, in meine Richtung:
“Komisch!“, und es klang wie “Unfug!“, es klang, als
ob er mich nachäffen wolle, mir die Dummheit meiner
Gedanken zu Ohren bringen wollte. Zweifelsohne hatte
ich mich verhört. Denn sicherlich hatte ich kein
lautes, sondern höchstens ein kleinlautes
Selbstgespräch geführt. Oder war es einer dieser
Zufälle gewesen, die bekanntlich vieles vollbringen
können, was aber, selbst bei sorgfältigster Planung,
willentlich unmöglich zu erreichen ist?
Jedenfalls war das Erlebnis für mich so unwichtig,
dass ich es sicher bald vergessen hätte. Es gab so
viele andere Gedanken die sich mir aufdrängten, weiss
der Geier, und sie hatten durchwegs mit realeren
Erlebnissen zu tun. Überhaupt gab es wenig, das mich
ernsthaft verstören konnte. Ich führte das zum einen
auf mein Alter zurück, eine gewisse Abgebrühtheit, die
mit der Gewohnheit und der allmählichen Abkühlung der
Nervenbahnen zunahm. Zum anderen aber, und dem mass
ich im Zusammenhang mit meiner Gelassenheit mehr
Bedeutung zu, war es das Resultat langer Übung der
Konzentration und des Selbstbewusstseins, ahh, dyana.
Niemand erwartete mich, als ich meine kleine Wohnung
im 16ten betrat und so begrüsste ich nacheinander
einige Gegenstände wie sie in den Blick traten, hallo
Rucksack, aha der Herr Regenschirm, nahm die Kappe,
auf der in Grossbuchstaben NYC stand, ab, nicht lange
her, es konnte sich nur um Monate handeln, hatte ich eine
Kappe mit der Aufschrift <Bubble Gum< verloren,
entledigte mich der restlichen Strassenkleidung und
schaltete den PC ein, gespannt auf Korrespondenz.
Endlich allein, dachte ich mit Baudelaire, vorbei die
Tyrannei der Menschengesichter. Ich nahm mich nicht
ernst, genoss die Stille der Wohnung, die nur durch
das Gelichter der erleuchteten Fenster gegenüber
gestört wurde. Richtige Vorhänge bräuchte ich, nicht
diese fadenscheinigen Deko-Girlanden, die abends, wenn
das Licht brannte, nichts verdeckten, oder so
zumindest hatte ich jeden Abend das Gefühl. Ich
wunderte mich über meine Nachbarn vis-a-vis, einem
wohlsituierten Pärchen in einer grossen Wohnung, die
auf Vorhänge grösstenteils verzichteten, ich war
jedoch in diesem Sinne kein Voyeur. Es war keine ePost
da und ich legte mich bald mit einem Buch ins Bett.
>Ich gehe mit Dostojewski ins Bett<, scherzte ich
dabei, lau. ( Damals gab es noch keinen Gameboy DS, den
man im Bett liegend einhändig bedienen konnte, könnte
ich heute, bei der Korrektur scherzen.)
Und so ging für mich ein Tag zu Ende und ich ahnte
nicht, dass ich die Manifestation eines seltsamen
Phänomens erlebt hatte, das mich noch lange in Atem
halten würde.

Bestätigung

Das Erlebnis beschäftigte mich weiter. Wenige Tage
danach besuchte ich eine Freund, P, einen Bohemien,
der wilde, farbenfrohe Bilder malte, die zumeist ein
Netz ineinander verwobener, annährend geometrischer
Gestalten aus kräftigen, farbigen Pinselstrichen
darstellten. Persönlich hatte ich die Bilder recht
gerne, sie befriedigten meinen ästhetischen Sinn,
obwohl mir sonst das Abstrakte fern stand. P führte
das relativ ausgelassene Leben eines jungen Erben, der
es sich leisten konnte noch nicht an die Zukunft zu
denken, und die Gegenwart mit geistigen Getränken und
Gedanken anregend zu gestalten. Wir plauderten ein
wenig, doch wollte kein anregendes Gespräch zustande
kommen weil wir uns längere Zeit nicht gesehen hatten
und beide in eigene Probleme vertieft waren. Wie immer
litt er unter dem Mangel an Ausstellungsmöglichkeiten.
Ich verabschiedete mich bald und dann passierte
es: Während ich im Vorzimmer die Schuhe schnürte
dachte ich, gedanklich schon wieder bei meinem neuer-
dings erlebten Phänomen:
“Vielleicht kann ich meinen Wahn ja positiv sehen.
Möglicherweise gehöre ich einer anderen, neuen Art von
Menschen an.“ –
“Also das brauchst nicht zu glauben.“ – ertönte darauf
sogleich, barsch, die Stimme meines Freundes, der
hinter mir aus dem Wohnzimmer aufgetaucht war.
“Nein, nein, glaub ich eh nicht.“ – Erwiderte ich beim
Aufstehen.
Die Worte entfuhren mir ganz unwillkürlich, bevor ich
noch daran denken konnte, dass wir gerade ein Gespräch
geführt hatten, das keinen anderen Gegenstand, als nur
meine nicht laut geäusserten Gedanken, hatte.
Ich stolperte aus dem Haus auf die Allee und erblickte
die jungen Birken, die hier am Übergang vom Stamm zur
Krone seltsame knollenartige Verdickungen aufwiesen.
Irgendwie beruhigten sie mich. P hatte mich einmal auf
diese Verkrüppelung aufmerksam gemacht und gemeint,
dass sein Elternhaus nicht zufällig hier stand. [...]
Mein Blick ruhte weiterhin auf den seltsamen Bäumen,
während ich mich vom Haustor meines Freundes
entfernte. Ich blickte die Allee entlang und scheute
ein bisschen vor den wenigen Passanten. Was, wenn auch
sie meine Gedanken erraten konnten? Es passierte
jedoch nichts. Und auf dem Nachhauseweg kehrten meine
Gedanken immer wieder zu diesem erneut sehr
merkwürdigen Ereignis zurück.

Reflexion, Vijana

Wenn das eine Form von Geisteskrankheit sein sollte,
dann fand ich sie nicht sehr spassig. Trotzdem
beunruhigte mich die Vorstellung nicht. Am
wahrscheinlichsten schien es mir aber, dass es eine
Form von Überspanntheit war, und im schlimmsten Fall
die Wahnvorstellungen eines kränkelnden Geistes.
Immerhin meditierte ich seit einiger Zeit, nach der
Zen – Methode, genauer gesagt nach einer Methode, die
sich auf das Zählen der Atemzüge beschränkte, SOTO-ZEN
wurde es genannt, eine von den zwei grossen,
übriggebliebenen Traditionen. Der erste direkte
Effekt, der mir dabei aufgefallen war, die Zunahme der
Konzentration und ein dadurch subjektiv beschleunigter
Gedankenfluss, da mir weniger Gedanken des inneren,
ständigen Monologs entgingen, konnte allerdings mit
diesen neuerdings aufgetauchten Erlebnissen
zusammenhängen, ja, sie sogar ausgelöst haben.

Andere Einflüsse

Ich führte das Ganze aber teilweise auch auf meine
Drogenerfahrungen in der Jugend zurück, dem Rauchen
von Cannabis, dem Einnehmen von LSD – Trips. Vor allem
letztere liessen die Raumproportionen durcheinander-
und ihn manches Mal in bestürzend grosse, manchmal
winzige, Räume geraten, oder er vermeinte im Bett
liegend zu schweben, als ob sich von seinem Körper
eine Art ´Astralleib´ gelöst hätte und dieser
Doppelgänger, der einen halben Meter über dem Bett
flog nun er wäre obwohl er gleichzeitig fühlte, im
Bett zu liegen, damals, mit Walkman - Kopfhörern in
den Ohren. (Verstoss a 1)
Alles in allem hatte ich also schon einige absurde
Situationen erlebt, um nicht “aus dem Häuschen zu
geraten“, wie ich in meiner Vorliebe für den Volksmund
gerne scherzte.
Es war ja schon eine Proto - Situation Jahre vorher
geschehen, die, da nicht wiederholt, ihm nur ab und zu
einfiel: Es war passiert bei einem der ersten Male als
er Haschisch geraucht hatte. Plötzlich, wir sassen im
Bruder des Zimmers, mit Josi herum, der am Compi,
Bruder und ich auf dem Bett, ich hatte die Füsse
angewinkelt und eine dieser Tabakpfeifen zum Rauchen
benutzt, als ich plötzlich ganz deutlich eine auditive
Halluzination hörte: "Janus, Janus" - laut und hell
rief die Stimme seiner Mutter wiederholt seinen Namen,
sicherlich 10 oder 20 Mal. Ich bestätigte mich bei den
anderen, dass es tatsächlich nur in meinem Kopf
geschah. Aber Ich dachte nicht weiter darüber, wie
gesagt war es eine einmalige Sache.

Andere Beispiele

Ich kannte einige Krankengeschichten von Menschen die
ihre Umgebung krampfhaft auf sich bezogen, in jedem
Passanten einen Teilnehmer an einer Verschwörung
sahen, und ähnliches. Viele meiner Bekannten schienen
verrückter zu sein als ich, selbst unter diesen neuen
Umständen. Ein Freund hatte sich wegen einer ganz
ähnlichen Sache, der Wahnsinn an eine gegen ihn
gerichtete Verschwörung zu glauben, dabei nutzte er,
ausser ein wenig Alkohl so gut wie gar keine
gefährilichen Substanzen, aufgehängt. Warum hat er
sich denn nicht von mir helfen lassen wollen!
Mir jedenfalls schossen keine göttlichen Emanationen
aus dem Arsch, wie dem Gerichtspräsidenten Schreber
und löste sich mein Gesicht nicht in einzelne Poren
auf, wie beim Wolfsmann, den bekannten Exempeln von
Freud. Nein, ich beschloss, mich als harmlosen Irren
einzustufen, im besten Fall als einen Begnadeten, den
man frei laufen lies und von seinen Pflichten entband,
wie ehemals bei den Indianern. Noch dazu ich meinen
alltäglichen Pflichten durchaus nachkommen konnte. Wie
texteten wir Jahre später mit Gregor: Den
Akkordarbeiter muss man sich als glücklichen Menschen
vorstellen.
Eine Freundin, mit der er einige Tage später sprach
während sie von einer Vorlesung kommend den
Paternoster passierten, sagte ihm, dass Telepathie als
wissenschaftlich erwiesen galt. (Szene mit Feministin
einfügen.)
Bei Turgeniew, den er zufällig gekauft hatte,
wahrscheinlich wegen einer Anspielung aus einem Stück
von Thomas Bernhard, las er, dass Menschen, die nahe
beieinander waren, oft gleiche Gedanken teilten. Es
gab genug Quellen, wenn man so wollte.

Das Summen

Etwa ein halbes Jahr zuvor war ohnehin ein anderes
Phänomen, zweifelsfrei eine Wirkung, möglicherweise
eine Nebenwirkung der Meditationspraxis, aufgetreten.
In Annährung an die richtige Haltung bemühte er sich
seine Wirbelsäule aufzurichten, die sich während
seiner Jugend immer bedenklicher gebeugt hatte.
Tatsächlich hatte ich viele Jahre gebraucht um mich
erst alleine und dann in Gesellschaft aufrecht halten
zu können. Selbst als ich die Gewohnheit, darauf nihct
zu achten aufgeben konnte viel es mir noch immer
schwer mich gerade zu halten, wenn ich nicht allein
war, ganz als ob ich mich auf jeden Fall vor den
anderen nicht vergrössern wollte.
Die Beine verschränkt, die Füsse auf den Schenkeln
ruhend, die Knie auf den Boden drückend und mit dem
Kopf “gegen den Himmel stossend“. Das war nicht mehr
Geistesübung alleine, da war auch das Kreuz, die
Schultern, der ganze Körper daran beteiligt. Es nannte
sich schlicht Shikantaza; Vortreffliches Sitzen,
Einfach-nur-Sitzen.
Aber worauf ihn niemand vorbereitet hatte, worüber er
nichts gelesen hatte, seine Quellenkenntnisse in
diesem Punkt waren augenscheinlich minimal, war der
Umstand, dass ich anfing Grillen, Zykaden, den “Sound
der Welt“ zu hören, wie man es auch immer nannte,
jedenfalls nannte ich es bald so, und es erstaunte und
erfreute mich gleichermassen. Es schien ihm ein
Zeichen innerer Stille zu sein. Tja, die Bachmann und
ihre Zykaden, langsam spinnte ich Verbindungen.
Das erste Mal war der Ton aufgetaucht, während ich
alleine in meinem Zimmer meditierte. Dabei wusste ich
sehr wohl wie der erste Punkt auf der universellen Zen
– Checkliste lautete: "Übe nicht allein." - Aber das
hier war wilder Zen, einer der unkontrollierten
Sprösslinge einer grossen überlieferte Hierarchie. Es
war eher wie die Experimente der Beatgeneration, wie
die vergessenen Versuche der Künstler- Philosophen der
Renaissance, für sich neue Wege zu erkunden. Also was
praktisch überall versucht wurde. Und ausserdem
praktizierte ich nicht nur allein. Helm hatte ihn
nicht nur eingeführt, sondern auc hweitergeführt.
Der Ton, es war eigentlich kein Geräusch, liess sich
am ehesten mit einem abgedämpften, gleichmässigen
Grillenzirpen vergleichen und noch mehr glich es dem
verstärkten Summen eines Fernsehers, das man vor allem
in der Kindheit, mit freischen Sinnen vielleicht,
stark, sehr körperllich spüren kann, mit meinem Bruder
waren wir in der Lage zu erkennen, ob ein Fernseher im
Nebenraum lief, selbst wenn kein Ton eingeschaltet war
und wir kein Mattscheibenlicht sahen.
In der Zenliteratur, soweit ich mich auskannte, kam
das Gesräuschphänomen nicht vor. Allerdings las ich er
nicht lange darauf von einem ähnlichen Fall in einer
Kurzgeschichte von Ray Bradbury, den er wegen
´Fahrenheit 451´ schätzte. Der Band hiess ´Die
goldenen Äpfel der Sonne´. Dort spielte nicht die
Meditation sondern ein Elektrizitätswerk den
Katalysator, der das Summen in der bislang ignoranten
Frau des Mannes der "hörte" auslöste.
Daraufhin hatte er allmählich angefangen Fakten zu
sammeln und sich an Fakten zu erinnern, die er von
früher her kannte. Eigentlich gab es viel Material,
das in dem Zusammenhang interessant war. Ohm,
Welttönen, Geist, vielleicht Ritornell, vielleicht
sogar Hintergrundrauschen, das Phänomen konnte viele
Namen haben. Er bezeichnete es als Sound der Welt. Er
war sich nicht sicher ob es ein Fortschritt, eine
Illusion oder einfach nichts war. Vielleicht hatte
sich gar nichts geändert, und der Sound war schon
immer da gewesen? Es war mir egal, so sehr
interessierte es mich auch wieder nicht. Ich achtete
nur genau, wann ich ihn vernahm, wann nicht. Es hatte
viel damit zu tun, ob meine Wirbelsäule wie auf einem
Faden aufgehängt, das heisst gerade war, oder nicht.
Ich überlegte, ob es in dieser Situation angebracht
wäre, weiterhin zu meditieren.

Der spirituelle Freund

Mein Freund Helm, der mich mit der Welt des Zen
vertraut gemacht hatte und der schon jahrelang Taiji
praktizierte, mein einziger richtig “spiritueller
Freund“, wie der Fachausdruck lautete, schwieg zu
diesen Geschichten oder liess mich seinen Zenstock,
seine gna-den-lo-se Zunge spühren. Er machte eine
offensive Taiji – Bewegung in meine Richtung und
scherzte: “Ich stosse dich gleich mit meinem Chi zu
Boden, wenn du nicht mit dem Blödsinn aufhörst.“ Wir
waren darin übereingekommen, dass die Essenz des Zen
nicht in Hokuspokus, nicht in übernatürlichen
Phänomenen bestand, sondern in Achtsamkeit für die
alltäglichen Verrichtungen. Ausserdem klang die ganze
Geschichte wie Angeberei, ich war jedes Mal beim
Erzählen sichtlich stolz darauf. Doch die Erfahrung
und die Lektüre hatten uns belehrt: Alles kann ein
Irrweg sein oder dazu werden. An allem konnte man
übermässig anhaften. Die Erleuchtung, falls es sie
gab, hatte nicht viel zu bedeuten und war eher eine
Art Bestätigung oder ein Wegstein von etwas anderem.
Die Erleuchtung, das waren Einsichten, in ´das Wesen
der Freiheit´, die oft wiederholt werden mussten.
Mein Freund vertrat mir in vielerlei Hinsicht die
Rolle des Meisters. Er machte mich auf interessante
Stellen in der Zenlitaratur aufmerksam, borgte mir
unzählige Bücher und wir sprachen oft und ausführlich,
meistens über Zen und Taiji. Ausserdem Castaneda.

Deal: Castaneda - Zen beschreiben, meine Verachtung
für Zen

Dem Auftreten des Summens war ein Wochenend – Retreat,
eine dreitägige Klausur unter des Teemeisters Aufsicht
vorangegangen.

Retreat

Dabei hatten sie seinen Meditationsplan laut dem
Muster eines Klosters in Südfrankreich, die im Anhang
eines Buches und im Internet zu finden war, erstellt.
Sie bügelten allerdings einige Härten aus, vor allem
das frühe Aufstehen. ( Als Arbeitsersatz zwischen den
Meditationsphasen hatte er sich die Durcharbeitung
eines Buches über den englischen Philosophen David
Hume vorgenommen. ) Nach der Einteilung trug er diese
sogleich in den Palm – Handcomputer ein, der zu allen
Abschnitten des Tages ein Signal geben sollte. Denn es
gab hier keinen Klostervorsteher oder Abt, der den
Gong hätte schlagen können. Sein Palm erleicherte ihm
deswegen die Klausur enorm, wie er fand. Der Alarm war
dem Intercom der Enterprise nachempfunden, ein
“ti-di“, das Teil eines im Internet gefundenen, 50 kb
grossen Star Trek – Themas für das Palm- Userinterface
war. Sein Freund drohte zwar scherzhaft mit dem Taiji
– Schwert, einem schmucklosen Ding aus hellem,
lackierten Holz, dennoch freute er sich beinahe, das
sich der von ihm verachtete Palm wenigstens einmal als
nützlich erwies. Und am ersten Abend hatte er mir die
Taiji – Schwertform vorgetragen, einen Tanz aus
fliessenden Bewegungen die dem Atemrhythmus angepasst
waren. Ich beobachtete das Schauspiel genau und
empfand es wie ein Geschenk, es miterleben zu dürfen,
denn ich wusste, dass es nicht zu meiner Ergötzung,
sondern zur Stärkung der Praxis diente. Taiji stammte
aus dem Taoismus sowie dem Zen. Aufmerksamkeit, Atem
und Körperhaltung waren dabei die sensiblen Punkte.
Immer waren runde Formen gefragt, auch bei den
dazugehörigen Chigong – Übungen. Er erinnerte sich an
das Dao – De – Ging: >Da ich seinen Namen nicht kenne,
nenne ich es Dao. Das was benannt werden kann, ist
nicht der Weg.< Das war lediglich der Ausdruck der
zugrundeliegenden Philosophie und ich hatte damit nie
viel anfangen können, im Gegensatz beispielsweise
eines Ken Wilber, aber der Alltagsgeist der Praxis
hatte seine jeweils spezialisierten Methoden. Auch die
Shaolinmönche meditierten und bauten Chi auf. Ihre
Gliedmassen fühlten sich nachher wie aufgebläht an,
was ich mir aus einer Sendung über die Shaolin gemerkt
hatte, und da ich dergleichen Filme, der frühe Jacky
Chan im Affenstil, die Filme im mittelalterlichen
Sujet waren allein ästhetisch, aus der Kindheit
kannte. Sei es durch das viele Lesen, sei es durch die
Tagträumereien, denen ich mich sooft reglos hingegeben
habe, fühlte ich oft meine Arme wie ausgedehnt,
aufgeblasen, als hätten sie ihre Grenzen wie
ausserhalb der Haut auf doppelten und dreifachen
Armdurchmesser vergrössert, solange ich mich still
verhielt, das Fliessen nicht störte. Und obwohl ich
früher nicht darüber nachgedacht hatte, was das zu
bedeuten hätte, war es mir immer sehr angenehm, oder
jedenfalls interessant erschienen, und ich versuchte
die Zustände zu prolongieren. Jedoch waren sie bewusst
nicht herbeizuführen, ich dachte nie über sie nach,
und sobald ich mich zuviel auf sie konzentrierte
verschwanden sie sowieso. Darüber sann ich also nach,
während ich sich auf die Meditation vorbereitete. Wie
viele Erfahrungen blieben ohne Konsequenzen, weil wir
sie nicht zu benennen wissen, wie viele Wörter bleiben
leer, weil sie nicht im Alltag ihren Grund haben. Und
von wie vielen Gemeinschaften müssen wir lernen, bis
wir auch die Informationen aus Büchern und anderen
Medien nützen können? Das hatte ich schon oft gedacht,
in der Unizeit. Es war mir beigebracht worden so zu
denken.
Die Klausur schliesslich war nicht zum Lachen.
Die Praxis des Soto – Zen, das Zählen der Atemzüge,
auf japanisch Su – Soku – Kan, praktizierte ich, indem
ich sowohl Ein- als auch Ausatem zählte, die kürzeren
Pausen liessen weniger Zeit zum Denken, als wenn ich
nur beim Einatmen oder nur das Ausatmen gezählt hätte.
Das alles war beschrieben, in einem der beschreibenden
Systeme, Anleitungen. Es war schwierig genug, sich auf
das Zählen zu konzentrieren und nach 10 nicht weiter
zu zählen, sondern von vorne zu beginnen. Diese
Grundzüge standen in jedem praktischen Zenbuch. Ich
fühlte mich reif genug für einen ernsthaft gemeinten
Versuch.
Am ersten Tag in der Früh hatte ich müde in der
Meditationshaltung dahingedämmert, nachdem ich kaum
aufgestanden war. Nach 25 Minuten, der traditionellen
Zeit die ein Räucherstäbchen zum Abbrennen braucht,
machte ich eine Pause und trank den schwarzen Kaffee
den der Meister, gerade erwacht und sehr wortkarg,
aufgebrüht hatte. Jeweils eine knappe Stunde sitzen in
der Früh, zu Mittag und am Abend, mit weiteren 25
minütigen Phasen dazwischen. Zu allem Überfluss waren
meine Zigaretten rationiert, auch wenn ich ab und zu
eine zusätzliche einschmuggelte, ich hatte auch
Ausgang, die ich dann am Balkon rauchte.
Aber am zweiten Tag geriet ich schliesslich so in
Fahrt, dass ich nach der Mittagsmeditation, die wie
gemeinsam bestritten, freiwillig länger sitzen blieb.
Mein Freund war das erste Mal sichtlich mit mir
zufrieden. Als sie am Abend bei einem Drachenbrunnen –
Tee sassen, gewährte er mir zusätzliche Sakshimis, wir
(er!) die Zigaretten in Anlehnung an das Vokabular der
Teezeremonie manchmal nannten und lobte ausführlich
die erbrachte Leistung. Länger sitzen zu bleiben war
kein Zuckerlecken. Er las mir eine Zengeschichte vor:
Als sich der Adept, nachdem er sich vom Meister vom
Berg nicht verjagen lies, nach wochenlanger,
schweigender Meditation das erste Mal mit diesem
austauschen konnte, fragte er ihn:
>Heute während der Meditation hörte ich plötzlich
einen Donner und es war, als ob die Welt verschwände.
Was bedeutet das?<
>Du brauchst darauf keine Rücksicht zu nehmen.< sagte
der Meister. >Das passiert mir oft und dennoch muss
ich noch Jahre hier sitzen, will ich Freiheit
erlangen.<
Obwohl meine kurze Klausur gänzlich unspektakulär
verlaufen war und ich keine aussergewöhnlichen
Einsichten gehabt hatte, stärkte sie mich enorm und
lies seine Konzentrationsfähigkeit anwachsen.
Ausserdem hatte ich den Humetext von Deleuze
extrahiert. Bald darauf begann allerdings das Summen.

Diagnose

Aber der ´Sound der Welt´, die Chi – Stärkezustände,
die geschärfte Aufmerksamkeit und das dadurch
aktivierte Gedächtnis, oder der leichtere Zugang dazu,
waren die eine Seite, sozusagen positiven Früchte der
Praxis, zu denen ich mich entschloss auch das Summen
zu zählten, da es harmlos war. Es gab jedoch genügend
Hindernisse. Im Buch eines japanischen Zen – Meisters
aus der Gegenwart, der sehr an der modernen Technik
der Gehirnwellenmessung zur Erforschung der Zustände
während der Meditationspraxis interessiert war, fand
ich weitere mögliche Gründe für einen Abbruch der
Übungen. Sie trafen teilweise auf mich zu. Der Meister
beschrieb mehrere Fälle aus seiner eigenen Erfahrung,
in denen die Praktikanten unangenehme Situationen
erlebten, sie hörten Stimmen und bekamen Paranoia. Die
möglichen Störungen der Psyche, die vielen
Verwirrungen der Menschen empfiehlt er daswegen
pragmatisch, so sie unangenehm werden, besser durch
sachgemässe Behandlung zu kurieren. Zen war kein
Mittel gegen Wahnsinn, eher konnte es bei labilen
Charakteren diesen hervorrufen. Und ihn plagten und
erheiterten im zunehmenden Masse ja aussergewöhnliche
Ereignisse, die nicht normal waren.
Seine vorläufige Diagnose ergab, dass ein Ereignis –
Cocktail aus Drogen, Unterentwicklungen und
Stillständen seiner Gesamtpersönlichkeit, die bis zu
Schädigungen reichten, es half nichts, sozialer
Deprivation und regelmässiger Meditationspraxis,
unsachgemäss oder nicht, vielleicht auch durch
Überschätzung oder Nichtachtung seiner Kräfte, die
Symptome Wahnvorstellungen, wenn auch Einsichten, von
harmlosen Begleiterscheinungen wie dem Summen im Ohr,
dem mutmasslichen Ohm, begleitet, was zeitlich
vorausging, all das hervorgerufen haben könnte.
(Verstoss a 2?) Das beunruhigte ihn nun doch ein
wenig. Er konnte sich schon den ärztlichen Befund
vorstellen; >Der Patient ist jedoch
kommunikationsfreudig und kann mitlachen.< Das stand
jedenfalls bei meinem Freund h.c. aafoch.
Ich beschloss, mit dem Meditieren aufzuhören. Ich war
so weit gekommen, dass ich darüber zu schnell geworden
war; offensichtlich. Während meine Konzentration
wuchs, hatte ich nicht bedacht, wie viel
Schwierigkeiten mir der Umgang mit Menschen bereitete.
Das konnte mit keiner Meditation bereinigt werden, nur
durch realen zwischenmenschlichen Kontakt. Das
Hinderlichste für jedwede Entwicklung ist die
Soziopathie. Hat man schon einen Mönch allein gesehen?
Das waren Ausnahmen. Einen Menschen konnte man sich
eben nicht alleine vorstellen. Ja selbst den Teufel
nicht. Wie sagte Deleuze: >Der Teufel ist vielleicht
der Beelzebub, aber nur als Herr der Fliegen.< War das
eine Anspielung auf die berühmte Geschichte, in
welcher die Kinder sich gegenseitig die Hölle
bereiteten, Der Herr der Fliegen? Ich wusste es nicht
mehr, es war ein Schulklassiker gewesen, ich verstand
damals gar nichts, es wiederte mich regelrecht an.
Hingegen glaubte ich, dass ich doch gerade dabei war,
von der krankhaften Soziopathie des notorischen
Miesmachers, wenn man es überspitzt formulierte, zu
der harmloseren Variante eines wohlwollenden Narren,
herumzuschwenken. Und gerade jetzt fingen diese
Wahnvorstellungen an! Ich beschloss, nichts auf sie zu
geben, sondern sie vielmehr zu übersehen wo es ginge
und sich zu amüsieren, wenn sie sich aufdrängten.

Pornos

Ich onanierte nun häufiger und hatte das Gefühl,
während ich die Pornos in und aus dem Internet
betrachtete, von seiner Nachbarin vis - a - vis
beobachtet zu werden. Ihr Freund hingegen, oder ihr
Mann, was wahrscheinlicher war, lehnte sich in letzter
Zeit eher drohend hinaus und betrachtete mich scheel.
Wirklich hatte ich in letzter Zeit, vor allem im
Sommer, meine Hauskleidung vernachlässigt und war
sogar betont lässig nackt in der Wohnung gewesen. Es
erinnerte mich an seine letzte Liebe, die einige Male
bei mir gewesen war. Ich wünschte, undurchsichtige
Vorhänge zu haben, half dem Zustand jedoch nicht ab.
Regelmässig lies ich sich von den Frauen und den
Künstlern der Pornobranche erregen und sah an einem
Tag bis zu mehrere Duzend gefilmter oder gezeichneter
Frauenkörper in verschiedensten Stellungen und
Arrangements. Der bequemste Weg schnell viele Bilder
zu sehen war, zu den nach Themen sortierten pages, die
häufigsten waren Teens, Blacks, obwohl schwarze Frauen
die posierten selten waren, und Lesbos, die in
verschiedenen Ausführungen und wechselnder Qualität
und Zuverlässigkeit auf den Servern diverser Low –
Profit – Unternehmen, oft Liebhabern, täglich neu zur
Verfügung gestellt standen, zu surfen. Es waren das
durchwegs was man als ´harte Pornos´ bezeichnete, mit
in klassischem Sexoutfit der 90er Jahre gestylten
Damen, nämlich rasiert und auch die Männerausstattung
war oft von Haaren befreit, was alles in allem einen
recht kindlichen Eindruck machte. Mein Interesse
reichte nämlich bis in die Details, die sich so
wesentlich offener dem Blick darboten. Die gewagtesten
Bilder, die noch legal sich aber an der Grenze zum
Kinderporno bewegten, waren unter den japanischen
Comix, den Mangas zu finden. Sie waren von der
Faszination für Schulmädchen gekennzeichnet, die
manchmal als kaum pubertierende, kleine Mädchen mit
knospendem Brustansatz dargestellt waren. Die Japaner
hatten auch gehäuft inzestiöse Themen sowie Erstes –
Mal – Erzählungen, in denen Lust und Schmerz
abwechselten. Ihre Vorschauen und kostenlos
zugänglichen Bilder waren meistens mit kleinen, wenig
verhüllenden Balken zensiert, die mich störten. Die
amerikanisch – europäischen hingegen karikierten oft
bekannte Comixhelden und es gab viele von De Sade
inspirierte, orgienhafte Erzählungen.
Ich mochte die Tatsache, dass man, einen
Internetanschluss vorausgesetzt, umsonst Pornos
betrachten konnte. Mittlerweile finde ich das
eigentlich nicht mehr praktisch.

Die Nachbarin

Wenn ich vor dem PC sass und onanierte achtete ich
zwar darauf, dass mein Unterleib vom Tisch bedeckt
blieb, trotzdem schien ich von den Nachbarn beobachtet
zu werden, vor allem der Schatten der Frau blieb mir
oft lange zugewendet. War da wieder mein Wahn im
Spiel?
Die Situation änderte sich nach dem Besuch mcs. Mcs
amüsierte sich über meine Wahnvorstellungen. Auch ich
hielt sie für Angebereien. Wir plauderten bald über
andere Sachen und tauschten Meinungen aus, welche
Partei man heute noch wählen könnte. Mcs erzählte von
einem Test in einer Zeitschrift, der Aufschluss
versprach, welche Partei einen am meisten ansprach.
>Bei den Sozialisten hatte ich null Punkte, bei den
Konservativen einen schmalen Bereich. Die anderen
Parteien sprachen mich auch nicht an. Wenn man heute
wirklich etwas anderes wählen will, muss man die KP
wählen.< sagte M grinsend, seine Züge wirkten, vom
Alkohol gerötet, infernalisch. Ich grinste zurück. Ich
fand Politik irrsinnig komisch. Ich sah davon ab zu
erwähnen, dass die Kommunisten meiner Meinung nach zu
vorbelastet waren, denn ihre Plakate hatten mir
gefallen. Ihre Rhetorik des Kampfes war jedoch nicht
zeitgemäss. Ausserdem wusste ich, dass mein Freund es
nicht gar so ernst meinte.
>Ich wähle die Kleinsten, das erspart mir die
Auseinandersetzung mit den politischen Programmen.<
Sie lachten wieder.
Dann sagte M, der gerne die grosszügig ausgebauten
Altbauwohnungen gegenüber betrachtete:
>Du, da steht eine Frau in Unterwäsche am Fenster.<
Ich sprang auf und sah hinüber. Wirklich stand dort
meine Nachbarin und hackte sich langsam den BH auf.
Ihr hell erleuchteter Rücken sah sehr glatt aus und
wurde von den feinen, silbrig glänzenden Trägern des
weissen BHs durchzogen. Sie drehte sich um, streifte
ihn ab und lehnte sich ans Fensterbrett. Sie schaute
ruhig zu uns her. Es war als ob sie nicht sicher war,
ob sie sich exhibitionieren sollte, aber ihre Bedenken
in den Wind schlug. Mein Herz fing wild zu schlagen
an, auch M schaute andächtig hinüber. Noch nie hatte
ich sie nackt gesehen, sie hatte kleine Brüste und
wirkte mit den kurzen Haaren burschikos. Ich machte
meiner Erregung Luft und sagte begeistert:
>Das sind die Früchte meines Exhibitionismus.< und
erklärte meinem Freund den möglichen Zusammenhang.
Nachdem sie einem Weile dort gestanden hatte schlüpfte
sie in ein Hemd und verschwand. Die Situation war so
eigenartig gewesen, dass M kurz zweifelte, ob es
wirklich eine Frau gewesen war, doch ich war mir
sicher, denn ich kannte sie ja. Wer sollte es sonst
gewesen sein, die Fenster waren unverkennbar, zwei,
oder drei, hell und hoch erleuchtet.
Aber wenigstens waren jetzt meine Befürchtungen
beschwichtigt. Ich war nicht paranoid gewesen, sondern
zu freisinnig. Und obwohl solche voyeuristischen
Szenen oft in meiner Phantasie herumgespuckt waren,
reagierte ich in Wirklichkeit relativ prüde darauf.
Ich achtete darauf, bekleidet zu bleiben und nur zu
onanieren, wenn das Pärchen nicht da war. Bald darauf
verreiste es für einige Wochen und ich atmete
erleichtert auf.

Weitere Situationen, Reflexionen

Trotz allem verstärkte sich mein Eindruck, dass die
Anderen meine Gedanken hören konnten. Meine
Gesprächspartner sprachen oft aus, was ich mir gerade
gedacht hatte, die Menschen auf der Strasse
wiederholten es, oder fingen plötzlich an, gegen mich
gerichtete Andeutungen zu machen. Ich bin nicht böse,
ich bin gut - dachte ich dann, nur brav jeden Ort als
Tempel, und jedes Wesen als Erleuchtet zu betrachten.
Man sah, ich hatte schon seit längerem begonnen, auch
aus Büchern zu lernen und auf die Praxis übertragen zu
können.
Einmal zum Beispiel, als ich in der Strassenbahn in
meinem auf dem Schoss liegenden Buche eine Fussnote
las, >Oh, eine Fussnote<, dachte ich dabei, nörgelte
hinter mir eine Stimme:
>Der kann die doch gar nicht lesen, die Schrift ist ja
viel zu klein.<
Ich geriet ein wenig durcheinander und konnte mich
nicht mehr auf den Inhalt des Buches konzentrierten.
Der Vortrag des Mitlesens war ohnehin nicht leicht
gewesen. Ich glaube, ich prüfte ein D.H. Lawrence -
Buch.
>Die Fussnote ist nicht zu klein.<, entgegnete ich im
Stillen, >Aber es ist schon ein wenig anstrengend.<
Ich war bemüht, solchen verwirrenden Situationen
versöhnlich zu begegnen. Solange ich mich von meinem
Wahn nicht verstören lies, stand ich ihm gleichmütig
gegenüber. >Ich muss positiv bleiben.<, dachte ich.
>Wie billig, sowas zu denken<, - gleichzeitig, denn im
Diskurs war es verpönt, das Wort positiv.

Trotzdem mochte ich den Gedanken nicht, dass die
anderen meine Gedanken zerpflücken konnten. >Gedanken
sind doch frei!<, rief ich innerlich. Aber wenn er das
gegenteilige Gefühl hatte, dann war es doch hilfreich,
ein heiteres aufgeräumtes Gemüt zu haben. Dieses
zumindest war ich auf dem Weg, immer weiter zu
vervollkommnen. Und hatte ich nicht selbst geprahlt,
oder war es erst danach, dass es mir egal seie, ob
meine Gedanken frei sind, solange es mein Restkörper
war?
Das war nicht immer so gewesen. Ich hatte jedoch im
Laufe der Studien und des Älterwerdens (gab es da
einen Unterschied?) erfahren, dass Ressentiment zu
nichts gut ist. Rechtes Denken, rechtes Reden, rechtes
Handeln, rechter Lebenserwerb war der Leitspruch der
Zenisten. Es war die Frage einer amoralischen Pietät,
weiss nicht woher das Wort, klingt wie Deleuze und der
De Sade - Erotomane, da angeblich die sogenannten
moralischen Angebote insgesamt in Verruf geraten
waren. Heutzutage war man Eklektiker und pickte sich
heraus, was einem gefiel.
Das Ressentiment war eine bösartige Wucherung. Die
Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hatte es
hinausgeschrien, hinausgeschrieben und war doch so
schüchtern gewesen, dass ihre Stimme bei ihrem ersten
öffentlichen Vortrag versagte und sie einen
Nervenzusammenbruch erlitt. Letztlich half nichts
gegen ihre Selbstzerstörung. Gegen Ende war ihre
Medikamentensucht so fortgeschritten gewesen, dass
ihre unempfindlich gewordene Haut selbst Brandflecken
von Zigaretten aushielt. Fünf Prozent Heilungschance,
hatte man ihr gesagt. Wenige Monate später war sie
tot. Bachmann hatte den ehemaligen Emigranten Robert
Musil in einem Hörspiel zum Leben erweckt und es tat
mir gut, dessen Stimme zu hören, nachdem er eigentlich
schon lange tot war. Egal.
Selbst Schmerz konnte zur Sucht werden. Als Kind hatte
ich Nägel gebissen und meine Finger hatten davon
ständig geschmerzt, doch war dieser Schmerz damals
etwas anderes als beschrieben gewesen, etwas, das mich
konzentriert hatte. Es war, als ob ich nicht gewusst
habe, dass ich mir selbst Schmerzen zufügte. Das
Warhol:"Hihi, ich wusste nicht um meinen
Körper"-Dillema.
>Alles vergeben, alles vergessen<, formulierte ich oft
provokant. Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten
Stein. Es gibt vielleicht Zeiten, die für
“Gedankenverbrechen“ besonders anfällig waren, schien
es. Warum müssen Gedanken denn frei sein, etwa weil
das Herz eine Mördergrube war? Nietzsche, ein weiterer
Todeskandidat, konstatierte seiner Gesellschaft die
allgemeine Infektion mit Ressentiment, deren Prototyp
er in den aufstrebenden Antisemiten sah. Die
Sklavenmoral zeichnete sich dadurch aus, hatte er
geschrieben, dass sie böse Andere brauchte, um sich
selbst gut zu fühlen. >Ich fürchte um meine Geduld!<,
hatte er einem antisemitischen Journalisten
geschrieben, der ihn belästigte.
Ich hingegen war immer mehr imstande, alles
gutzuheissen. Vollständige Bejahung! Das suchten doch
alle, selbst wenn sie es nicht wussten. Was die
sogenannte Positivität anbelangte, wusste ich über
mich ziemlich genau Bescheid, denn ich verglich meinen
Zustand oft mit den Beschreibungen. Es beschäftigten
sich doch viele, die wir als Denker zu bezeichnen
pflegen, damit und es ging sicherlich über das “think
positiv“ hinaus.
Die akkuratesten Beschreibungen und Klassifikationen
des Selbstgefühls fanden sich bei den Asiaten. Dort
gab es Jahrhunderte alte Traditionen der Vermessung
der Psyche, ja des ganzen Körpers. Demnach empfand ich
eine erste tiefe Befriedigung durch die Einsicht, dass
ich still sein konnte. Dass meine Gedanken nicht so
wichtig waren, als dass ich mich ständig in ihnen
verstricken müsste. Es war schliesslich immer eine
Frage der Achtsamkeit, die Konsequenz, die die
Voraussetzung für jede Spitzenleistung darstellte.
Konnte man das erregende Gedüdel seiner Gedanken
bremsen war man frei für lohnendere Aufgaben. Und auf
der anderen Seite stand die totale Verstrickung in die
eigene Geisteswelt, wie sie dem Wahnsinn eignete.
Natürlich kokettierten die Kreativen immer damit. Ganz
schön Paradox: Erstens ist der Stillstand ideal,
zweitens die Verstrickung genial. Genie und Wahnsinn,
war das nicht immer schon schwierig zu unterscheiden
gewesen? Mich stiess die Leichtfertigkeit ab, mit der
man sich auf leichtfertige Spiele mit der eigenen
Psyche einliess. Ich war in diesem Punkt schon
genügend beunruhigt. Den faulen Zauber um den Begriff
Genie fand ich altmodisch, er stammte aus dem 19.
Jahrhundert, war aber im Gegensatz zu vielen anderen
Dingen schon veraltet. Ich kannte mindestens fünf
Definitionen davon und die ansprechendste schien mir
zu sein, dass es keiner besonderen Fähigkeit bedarf
ausser, seine Umgebung zu verlassen und sie
beschreiben zu können. Das konnte ich, und das tat ich
ja auch.
Alle Unangepassten sind Agenten eines Versprechens,
das eine andere Welt verheisst. ich erinnerte mich an
den Ausruf eines jungen bärtigen Mannes im Trenchcoat,
der irr die Wartenden angrinsend, er war sichtlich
berauscht, die U-Bahnstation nahe am Bahnsteigrand,
die Säulen aussen nehmend, entlanggegangen war: >Die
Leute schaun aber bös!<. Sehr trocken, sehr heiter -
verrückt einen Tick. Ich hatte darüber schmunzeln
müssen, vielleicht, weil auch ich den Mann zunächst
argwöhnisch beobachtet hatte. Meine genauso irre Miene
gemeistert habe, um ihn kühl anschaun zu können. Die
Agenten der Fröhlichkeit waren oft selbst düstere
Gestalten, als ob sie diese für sich nicht mehr
erhofften und deswegen bei anderen nach ihr Ausschau
hielten. >Übung macht den Meister.<, grinste ich
selbstzufrieden. Mir fiel eine weitere Zengeschichte
ein, die mir der Tee- und Honigbrotmeister vorgelesen
hatte.
Der Meister schreit den verwirrten Schüler an:
>Geh hinaus!<, und als dieser sich zur Tür wendet:
>Nein, nicht durch die Tür!<. Der verzweifelte Schüler
will durchs Fenster.
>Nein, nicht durch das Fenster! Geh einfach nur
hinaus!<
Der Meister war offensichtlich ein lustiger Kerl. Was
hätte er ihm auch sonst sagen sollen? >Hör mit dem
Blödsinn deiner Gedanken, deiner Welterklärung auf?
“Der Name welcher
gesagt werden kann, ist nicht sein Name. Weil ich
seinen Namen nicht kenne, nenne ich es Dao.“
Bennennungen waren sowieso nicht sehr hilfreich.
Wichtiger waren Handlungsanweisungen, waren praktische
Beispiele und Anregungen, die das Ruder des willigen
Adepten herumschwenken sollten. Der Meister aus der
Geschichte hatte offenbar gespührt, dass sein Schüler
reif war. Er versuchte ihm den letzten Stoss zu
versetzen, damit er eine Einsicht machen konnte.

Und wo stand ich, fragte ich mich. Zweifellos war
etwas mit mir im Gange. In letzter Zeit war auch das
Summen stärker geworden. Früher ist es nur während der
Meditation aufgetaucht. Seit ich damit aufgehört hatte
schlich es sich immer öfter in Zeiten der Ruhe ein,
wenn ich las, im Bett vor dem Einschlafen, beim Warten
auf den Bus. Meine Haltung hatte sich sichtlich
verbessert, das schien mir einer der ausschlaggebende
Gründe zu sein, die gerade Wirbelsäule. Es summte
immer stärker und öfter in/um mir/mich.
Ich fand es jetzt sehr witzig, gewisse Versatzstücke
aus der Kosmologie der Alten nie begriffen zu haben.
Seit der Antike stellte man sich vor, die Sterne wären
auf konzentrischen Himmelssphären festgemacht, die,
weil sie bei der Bewegung gegeneinander reiben, eine
Ton verursachten. Die Musik und die Mathematik waren
von je her verknüpft, das kam von den arithmetischen
Verhältnissen der Harmonien und ähnlichem und war
leicht verständlich. Aber warum reiten sie so auf den
Sphärenklängen herum, die doch kein Mensch hören
konnte, woher diese Grille? Jetzt, als eigenartiger
Resonanzkörper, war ich wieder einmal froh, so viele
Erklärungen, diesmal war es Philosophiegeschichte,
Wissenschaftsgeschichte, dafür parat zu haben. Der
Vorteil einer humanistischen Ausbildung. Ich stellte
mir vor wie es jemanden gehen würde, der von solchen
Sachen nichts wusste und in die gleiche Situation
geriet wie ich.

Fallbeispiel MFs Summen

Ich kannte so einen Fall. MF erzählte mir mehr oder
weniger im Vertrauen, dass er über ein Summen im Ohr
beunruhigt wäre. Er war bei einem Facharzt gewesen,
der ihm aber nicht helfen hat können. Das war vor
meinen eigenen Erfahrungen gewesen und so beunruhigte
mich die Geschichte des Freundes damals nicht
persönlich. Kam es nicht allenthalben vor, dass Leuten
die Ohren sausten? Wenn man einen Schlag auf den Kopf
bekommt summt es, wenn die Musik zu laut war
ebenfalls, es gab ein Duzend möglicher Erklärungen
dafür. Höchstens erinnerte ich mich an den Film
´Arizona Dream´ von Kustorica, dort war ein Kind
deswegen bei 120 Schulmedizinern gewesen, danach hatte
es eine Schamanin geheilt, indem sie ihm eine riessige
Papiertüte ins Ohr gesteckt und eine Zeremonie
aufgeführt hatte. Oder so ähnlich. Ich erinnerte mich
vage an eine grosse gelbe Tüte im Ohr eines Kindes auf
der Strasse. Der Film handelte meiner Meinung nach,
das heisst, wenn ich gefragt wurde, von Initiationen.
Aber erst als ich durch die eigenen Erfahrungen
angeregt nach möglichen Erklärungen suchte, fielen mir
die alten Geschichten ein. MF war in der Tat, wie ich
selbst, oft müssig und gab sich seinen Gedanken hin.
Er hatte schon immer Schriftsteller werden wollen,
trieb sich jedoch zumeist bei Freunden und auf Parties
herum. Mehr oder weniger aus Rebellion gegen seinen
Vater oft, ja gegen die Gesellschaft, hatte er das
Gymnasium nicht beendet und alle Studien verachtet.
Schon bei mir selbst war die glückliche Lage, meinen
Zustand erklären zu können, oder dies zu glauben, aus
einer Kette von Zufällen entstanden. Ich interessierte
mich für derlei Skurillitäten, wohingegen MFs
Interesse, von der mangelnden humanistischen Bildung
abgesehen, praktisch - lebensweltlicher Natur war, sie
zeigte sich in seinem Faible für Bionahrung,
gesellschaftlichem Umgang und Tagespolitik. Er
verachtete das trockene Bücherwissen und nannte die
Intellektuellen, zu denen er trotz allem gehörte,
falls es sie gab, falls man so einen Begriff
gebrauchen sollte, gern ´Intellelte´. Diesem Skeptiker
eröffnete ich nun meine Vermutungen. ich erzählte ihm
von den langen Traditionen, die die Beschäftigung mit
solchen Phänomenen, wie dem ominösen Summen,
hervorgebracht hatte. MF hörte mich schweigsam an. Es
war nicht seine Art bei allem sogleich nachzufragen,
sondern Informationen erst einwirken zu lassen und
sich mit der Zeit ein eigenes Urteil zu bilden.
Während ich MF über dieses vermeidliche Geheimnis
vermeindlich aufklärte, kam ich mir vor wie der
Einäugige, der den Blinden führen wollte. >Ich bin
doch nicht der König<, dachte ich, >Nicht der Führer,
der weiss wo es langgeht.< No teacher, maybe preacher?
Das verlangte aber auch niemand von mir, zum glück,
nicht mehr, auch das nicht mehr. ich war es doch, der
sich allen mit meinen kümmerlichen Erkenntnissen
aufdrängte. Aber wenig später hörte ich, dass MF die
Prüfungen für die Akademie der bildenden Künste
abgelegt hatte. Endlich war dieser also auf dem
ersehnten künstlerischen Weg. ich verbuchte das
teilweise auf mein Konto, immerhin hatte ich dessen
Ängste betreff des Summens beschwichtigt. Da ich die
Veranlangung hatte, meinen Einfluss auf die Menschen
überzubewerten (war das nicht auch Teil seines
Wahns?), fand er diesen Erfolg befriedigend. Es war
solange in Ordnung wie ich nicht anfing ihnen meinen
Verdienst vorzuhalten.

Weitere Reflexionen

Die Intellektuellen von Heute, falls es überhaupt
welche geben sollte, sagen nicht mehr wie wir denken
und handeln sollen. Das besagten jedenfalls die
modernsten Theorien, die ich kannte. Sie geben uns
lediglich Werkzeuge in die Hand, oder zumindest
Erklärungen, die wir benutzen können oder auch nicht.
Das wusste ich, denn ich hatte mich gründlich
umgehört, kannte die zeitgenössische Philosophie, die
Wissenschaftstheorie, die Grundzüge der Geschichte,
ich wusste um die Schwierigkeiten der Soziologen, eine
verbindliche Gesellschaftstheorie zu formulieren, ich
war vertraut mit den religiösen und spirituellen
Strömungen, selbst mit der Homöopathie. Auch die
Literatur war mir nicht fremd.
Zur Identitätsstiftung gehört immer ein Anderer, der
man selbst nicht war, auch wenn es nur die Identität
eines Wahnsinnigen war. Hatte sich Nietzsche nicht zum
Sehenden erkoren, zum Sehenden in einer Schar Blinder,
als der Philosoph mit dem Hammer? Bedurfte das
Arbeiterproletariat nicht der Kapitalisten? Halten die
entwickelten Länder nicht ihr Ethos den
Schurkenstaaten und dem Terror entgegen? Was genau war
die Sklavenmoral?
Indessen verschärften sich meine Wahnzustände. Wenn es
stimmt, dass sich die Gesellschaft in einem Zustand
permanenter Selbstverunsicherung befand, dann leistete
seine Psyche hervorragende Arbeit. Wenn ich unter
Menschen war, befand ich mich also nun in ständiger
Unruhe, einer anderen Unruhe als früher, gepeinigt von
dem Gefühl, von ungewollten Zuhörern meiner Gedanken
umgeben zu sein.
Ich musste sich bemühen, in seinen Mitmenschen nicht
Eindringlinge in meine Gedankenwelt zu sehen sondern
Gäste. Dazu bedurfte es in meinem Zustand allerdings
des kleinen Tricks, sich der eigenen Gedanken nicht zu
schämen und keine negativen Gedanken zu haben. Aber
das war leichter gesagt als getan, wenn auch kein Ding
der Unmöglichkeit sagte der Zen: >Einen bösen Gedanken
zu haben ist Krankheit, ihm nicht weiter zu verfolgen
die Heilung.< - Das stimmte. Und in seinen krankhaften
Zustand stimmte es doppelt.

Arbeitskollegen

Als ich eines Tages in der Firma angekam, in der ich
einer unqualifizierten Arbeit nachging, sah ich schon
von weitem meinen hauptsächlichen Kollegen MK, mit
einer Kollegin im Gespräch. Diese hatte ich erst
einige Male flüchtig gesehen, doch MK hatte mir schon
oft von ihr vorgeschwärmt. Sicherlich war sie eine
sehr schöne Frau, fand ich jetzt, wie sie
hochgewachsen und schlank vor MK stand, der sichtlich
angeregt mit ihr plauderte. Doch kaum hatte ich sie
gesehen war ein Urteil gefällt. >Was soll denn diese
Dauerwelle?<, dachte ich . Ihr Haar fiel in kleinen
künstlichen Wellen steif und glänzend hinab. Ich
mochte das nicht, es erschien mir gar zu künstlich.
Sie hatte das nicht nötig. Oder besser gesagt, mir
gefiel die Harmonie nicht.
Mit einem Mal wirkten die beiden verstört. Indessen
begann ich meine Arbeit, auch ich war angespannt.
>Das sind doch nur Haare! Nur Haare!< schrie sie
plötzlich MK an, mit dem sie gerade noch gescherzt
hatte, und hielt ihm ihren Schopf, eine Strähne in der
Hand, vors Gesicht. Dieser wirkte verduzt. Sie
sprachen einige Worte die ich nicht verstand und dann
hörte ich MK mit lauter Stimme sagen, dabei
seltsamerweise mich anblickend:
>Ich bin nicht eingeraucht!< - mit Nachdruck.
>Ich auch nicht<, erwiderte ich in Gedanken für sich,
>Nur müde, unendlich müde.<
Tatsächlich war ich übernächtigt und das verstärkte
jedes Mal meinen milden Wahn. Die Situation
normalisierte sich bereits, die beiden sprachen wieder
über Geschäftliches. Dennoch atmete ich erleichtert
auf, als sie ging. Ich sprach mit meinem Kollegen
nicht weiter darüber, es war wie eine stillschweigende
Abmachung, über unerklärliche Ereignisse einen Mantel
des Schweigens auszubreiten. Nichts wäre einfacher
gewesen als MK zu fragen, was die Kollegin denn so
plötzlich mit ihrem Haar gehabt hatte. Vielleicht gab
es ja eine ganz plausible Erklärung dafür. Jedoch war
die Situation so merkwürdig gewesen, hatten alle
dermassen wie Verschwörer gewirkt, dass es mir vor dem
Gedanken, darüber noch ein weiteres Wort zu verlieren
schauderte. Er wollte einfach nicht weiter darüber
sprechen. Es gelang mir sogar, ihrer beider
angespannte Stimmung zu verscheuchen, indem ich
aufgeräumt einen Scherz machte. Irgendetwas über sie
und ihn, wer mehr Freizeit wo zu verbringen hätte. Aus
MKs misstrauischem Gesicht verschwanden die
Sorgenfalten. Nein, ich wirkte durchaus nicht unter
Drogeneinwirkung. Doch innerlich zitterte ich noch
immer leicht, Gefühl schlugen mitunter in
Sekundenschnell um oder intensivierten sich dermassen,
dass sie wie körperlichen Formen der Interaktion
wirkten, aufwühlend. Ich schob mein merkwürdiges
Verhalten (hatte ich sich merkwürdig verhalten?
Sicherlich war ich nicht besonders kommunikativ
gewesen, hatte mich am Rand auf- und rausgehalten.)
auf meine Schüchternheit.
Der Trick um sich nicht aufzuregen bestand für mich
auch darin, sich als normale Psyche zu sehen, obwohl
ich vermeidlich aussergewöhnliche Situationen erlebte.
>Eitelkeit, alles meine Eitelkeit!< beschwor ich mich,
wenn seine Gedanken wieder einmal nicht der Situation
entsprachen. Ich kam durch Selbstbeobachtung dahinter,
dass ich in so einem Fall mich oder andere in den
Schmutz zog, oder sie verurteilte, so wie die
Dauerwelle, und zwar ohne Humor. Wenn das eintrat,
bestand die erste Herangehensweise darin, es zu einem
Scherz umzubiegen. Das war leichter als die Sache ganz
abzutun, denn meistens handelten diese dummen Gedanken
von dem gerade ablaufenden Ereignis, das ja weiterhin
stattfand, ob man nun wollte oder nicht. Am besten
gelang mir gleich eine Entschuldigung, die, ohne einer
genaueren Adresse zu bedürfen, an die Welt im
allgemeinen gerichtet war. >Sorry Jungs und Mädels!<,
oder so. Das ergab sich jedoch selten, als ob in mir
doch, und doch noch, ein Widerstand gegen derlei
Zugeständnisse tätig wäre.
Doch diese Form des ´Coping´ eignete sich nur post –
festum, wenn die Sache schon vermasselt war. Ich
wusste nicht, wie ich die Gedanken von vornherein
verhindern konnte. Ausserdem war dabei schon
angenommen, dass ich es überhaupt mit Humor nehmen
konnte.
Die Dauerwelle war aber ein ernster Fall. Ich
versuchte es also mit Scherzen: >Bist eh ein nettes
Mädel.<, dachte ich ihr zu und: >Sie ist eigentlich
eine ganz schön coole Frau.< Er fühlte mich immer
besser. Sie war ohnehin wunderschön, es fiel mir nicht
schwer, Komplimente zu finden. So gelangte er
schliesslich dazu, alles nicht so ernst zu nehmen. War
die erste Formulierung noch spontan und unausgegoren,
wirkte die zweite vollständiger, neutraler. Das war
wie in der Wissenschaft, wo sich allein durch eine
speziellere, verbindlichere Formulierung der
Wahrheitsgehalt eines vagen Sachverhaltes erhärten
konnte. Erste Aussage: A wurde wahrscheinlich durch
Maschine X gemessen und produziert vielleicht B.
Zweite Aussage: A bewirkt B. Punkt. Viele
Zwischenschritte. Nun, vielleicht war es nicht ganz so
einfach.
Ich hatte mir angewöhnt, im Stillen immer dann
wohlwollende Bemerkungen zu machen, wenn eine
Situation anfing, unangenehm zu werden. In
Diskussionen pflegte ich solcherart dem letzten Satz,
den ich eben ausgesprochen hatte noch weitere
Erläuterungen im Stillen nachzuschicken, die meistens
der Entspannung der Lage dienten, oder weitere
Konnotationen des Gemeinten erhellten.
Jedenfalls war diese Objektivität nötig, weil ich über
einen möglichen Sexualpartner geurteilt hatte. Ich war
befangen gewesen und es konnte auch nicht
ausgeschlossen werden, dass mein Verhalten sowohl
Vorsichtsmassnahme als auch Abwehr bedeutete, oder
anbandeln.

Weitere Reflexionen, Mantras

Ich hatte meine Gedanken gründlich satt. Nach dieser
Fortsetzung meines Wahns machte ich mir die intuitive
Weise der Zerstreuung stärker bewusst, die darin
bestand, sinnloses Zeug zu trällern, Liedchen zu
pfeifen und ähnliches. ich brauchte mich nur auf das
Formulieren harmloser oder zusammenhangloser Wörter zu
konzentrieren, durch einfache Reime und
Wiederholungen, diese zu einer Art Mantras zu machen,
und auch dabei zu bleiben. So reisst man sich leicht
von unnötigen Gedanken los, zerstreut sich und sammelt
Kräfte. Ich war mit Theorie und Praxis von Mantras
nicht gut vertraut, am ehesten noch kannte ich mich
mit den Koans des Zen aus, unzählige kannte ich, ihre
Struktur und die Bedeutung der Kunst im Buddhismus.
Jedoch stellte ich mir das auch nicht anders als das
mir wohlvertraute Zählen der Atemzüge vor, und zwar
als eine Form der Konzentration.

[evtl. Geschichte von Bauer und Mantra einfügen]

Weiter Vron

An diesem Abend piepste mein Fernsprecher, eines der
seltenen SMS war eingetroffen, von meiner lieben
Freundin, die in Berlin für einige Semester Fuss
gefasst hatte und mir auf diesem Weg ihre neue
Telephonnummer mitteilte. Zufall oder nicht, ich hatte
an dem Tag viel über sie nachgedacht, darüber, dass
sie sich schon lange nicht gemeldet hatte.
Nachdem ich lange nachgedacht hatte, was ich ihr
schreiben solle antwortete ich am nächsten Tag: “Geht
gut, ja? Alles Liebe!“ Obwohl sie einander sehr
mochten, hatte ich immer den Eindruck, dass sie sich
ausser Alltäglichkeiten nichts mitzuteilen hatten. Und
Kunst. Aber schaffte nicht gerade Belangloses ein
Gefühl der Verbundenheit? Ansonsten unterschied sich
meine eigenbrötlerische Existenz allzu sehr von ihrem
aktiver gesellschaftsbezogenen Leben. Dennoch
verbrachten wir öfters schöne Zeiten miteinander. Nur
unser Briefverkehr schleppte sich mühsam dahin und war
von monatelangen Unterbrechungen gekennzeichnet.
Trotzdem hatte ich den Tag über nachgedacht, warum sie
sich schon so lange dagegen wehrte, mit mir per email
zu kommunizieren. Teilweise wusste ich schon den
Grund, unser Verkehr hatte einen besonders
vertraulichen Charakter. Wenn wir uns schrieben war
das oft eine Form von Liebesbriefen, die eben nach
altertümlicheren Methoden verlangten, einmal waren es
tatsächlich Liebesbriefe gewesen, und obwohl wir schon
lange nicht mehr zusammen waren bestand ein enges Band
zwischen uns weiter.
Darüber sann ich im Bett liegend nach, als das SMS
abgeschickt war. Ich strich sanft über die Seiten des
Buches, das ich gerade las, es war Musils ´Mann ohne
Eigenschaften´ Teil zwei, dessen druckfrischer Duft
die schier endlose Folge von Geruchseindrücken neuer
Bücher fortsetzte, die ich jemals gelesen hatte.
Ich sinnierte auch darüber, das das SMS wieder so eine
Koinzidenz war. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass V
sich gemeldet hatte, das hätte sie früher oder später
sowieso getan, aber warum war das SMS gerade an dem
Tag angekommen, an welchen ich über sie besonders viel
nachgedacht hatte? Es war wie so oft eine kleine
Sehnsucht. Ich dachte nämlich keineswegs jeden Tag an
sie, weil wenn das der Fall wäre, hätte man nicht von
einem aussergewöhnlichen Ereignis sprechen können.
Denn oft scheint uns etwas zufällig zusammenzutreffen,
das sich beim näheren Besehen als unaufhörlich
angestrebt entpuppt. So lenken wir oft unsere Schritte
wie unbewusst in die Nähe dessen, dem wir begegnen
wollen und sind dennoch bei einem tatsächlichen
Treffen erstaunt, was der Zufall scheinbar alles
vermag.
Aber dem war nicht so. Meiner geübten Aufmerksamkeit
wäre es mitunter nicht entgangen, wenn ich an V auch
in letzter Zeit gedacht hätte. Aber gerade an dem Tag
war eine spielerische Einsamkeit in mir gewesen und
ich hatte mir vorgestellt, wie es wohl wäre mit V zu
leben. “Du weißt doch, dass wir zusammengehören.“,
dachte ich jetzt. Viele Freunde die uns zusammen sahen
meinten, dass wir Geschwister wären und wir scherzten
auch selbst über unsere ´Geschwisterliebe´.
Ja, das war es am ehesten: Die Vertraulichkeit einer
Verwandtschaft. Aber rechtfertigte die Innigkeit der
Bindung diese weitere Koinzidenz, dass sie mir schrieb
als ich an sie dachte? So fragte ich mich und meine
Hand ruhte auf dem Buch, dass eine andere
Geschwisterliebe erzählte, von Ulrich und Agathe
(hiess das nicht ´Die Gute´?). Doch war diese
Verbindung von vornherein auf den >Anderen Zustand<,
angelegt, was immer das war, das Orginalzitat, und die
Geschwister strebten auf eine Art Befreiung vom
Urteilen. Ich hatte es erneut zur Hand genommen,
nachdem mir ein Freund vom ´esoterischen´ Gehalt des
zweiten Bandes erzählt hatte. Schliesslich war das
auch meine Freizeit - Forschungsrichtung. Aber bei mir
und V war ich mir nicht so sicher, was den anderen
Zustand anbelangte. In V waltete uneingeschränkt das
Ressentiment, mit dem so frauenhaften Gefühl der zu
kurz Gekommenen, vom Leben zum benachteiligten
Geschlecht Geschlagenen in einer gefühlvollen
Intensität, die sie sehr beherrscht, gehemmt,
handhabte. Shaken auf ienr Tanzfläche konnte sie.
Zustand, das war allerdings nur Spekulation, denn im
Grunde waren wir uns ähnlich in unserer oft
melancholisch gefärbten Passivität aus der wir durch
andere herausgerissen werden wollten, wie der Jack
Keruac in ´On the Road´ vom Elan eines Dean Moriarty,
den Draufgänger. Aber was war eigentlich mit dem
dunklen, feuerroten Maelstrom, in dem V sich einst
hineingezogen gefühlt hatte, wie sie ihm erzählt hat,
und von dem ein von ihr gemaltes Bild in ihrem Zimmer
hing? Ein Strudel aus dicken, schwarzroten Streifen,
die sich in des Zentrum reindrehten; künstlerisches
Spiel?

Musil

Und warum sollte ich mich, sollte ich uns, in Ulrich
und Agathe, dem ´guten´ Paar und nicht in Walter und
Clarisse wiedererkennen, dem ´schlechten´ Paar?
Schliesslich war es Clarisse, die alles auf sich bezog
und mit der Zeit wahnsinnig wird. Zumindest in Musils
Entwürfen für den dritten Teil. Mit Ulrich verband
mich nur die Mischung aus Technikinteresse, Sinnbild
einer neuen Zeit, und was man gemeinhin eine
humanistische Bildung nannte, und, am wichtigsten,
vage Ambitionen für etwas, das der Si-Fi Autor Neal
Stephenson ein “interessantes Leben“ genannt hat. Im
Stillen nannte ich mich scherzhaft Mann ohne
Gedächtnis. Immerhin waren Probleme mit dem Gedächtnis
eine Spezialität der französischen
Gegenwartsphilosophie. Und es gefiel mir jedenfalls
besser als Kaurismäkis Titel, Mann ohne Vergangenheit.
Was Musil so interessant für ihn machte war nicht nur
die Bestandsaufnahme des esoterischen
Erleuchtungswahns, sondern auch der seltene Versuch,
an das Thema aus der Perspektive beider Geschlechter
gleichzeitig heranzugehen. Ulrich und Agathe waren die
beiden guten Protagonisten, denen die Freiheit, die
Erleuchtung, mehr oder weniger zufällig passierte und
die trotz mancherlei Schwierigkeiten nicht von den
merkwürdigen Koinzidenzen und Wahnsinnigkeiten, die
mir (Clarisse) so zu schaffen machten, geplagt wurden.
Die Fragen die die Protagonisten umtrieb waren
folgende: Kann man die Erleuchtung erlangen? Dauert
der Zustand und was passiert dabei? Wie geht es danach
weiter? Und neben diesem beinahe idealen Paar
beschrieb Musil gleichsam als Gegenstück Walter, den
gescheiterten Künstler und Clarisse, die prüde,
ambitionierte Gesellschaftsdame, beiden war der
göttliche Wahn nicht zuteil geworden, obwohl sie ihn
ersehnten. Daraus entsteht bei ihr die krankhafte
Neigung sich im Mittelpunkt des Geschehens zu
vermeinen und ständig auf sie bezogene Zeichen
erkennen zu glauben, Illusionen also, die in
abgemilderter Form jeder einmal erlebte und die ich
selbst so gut kannte. die Beschreibung ähnelte sogar
frappant meinem Wahn, wenn z.B. beim Besuch des
Serienmörders Moosbrugger die übrigen Irren Clarisse
scheinbar als eine der ihren erkennen und sie
respektlos anredeten, also die Zufälle nicht nur in
ihrem Kopf sind, sondern es sogar zu realen
Situationen kommt. Sympathisierten nicht sogar die
Clochards mit mir? Und den Wahsinnigen unter ihnen
konnte ich noch allemal zeigen, wie wahnsinnig ich zu
scherzen imstande bin.
Dieses ergänzende Resümee war bitter, befand ich,
obwohl es eigentlich nicht neu für mich war. Musil
hatte seinen Charakter Clarisse unbarmherzig auf den
unwiderruflichen Weg des Wahnsinns hin angelegt. Bei
mir selbst war ich dessen nicht so sicher. Jedenfalls
war es unfruchtbar sich mit dem schlechten Paar zu
vergleichen. Denn es waren Ulrich und Agathe die fast
systematisch die Erforschung des anderen Zustands
betrieben, sogar Meister Eckhart wurde dabei
ausgegraben, und sie versuchten die Gleichartigkeit
der Erfahrungen, wenn nicht gar der Geschwister, unter
dem Deckmantel verschiedener kultureller Praktiken
aufzudecken.
Dummer europäischer Zwang, das Thema auf gleichsam
naturwissenschaftlichem Weg erforschen zu wollen,
beurteilte er Musil milde, irgendwie a la
Wittgenstein. Immerhin war zu deren Zeit der logische
Positivismus eines Wiener Kreises gerade im Entstehen,
die Wissenschaften waren im Aufstieg und vor jeder
gröberen Enttäuschung, wie sic hherausstellen wird, es
waren noch keine Atombomben gefallen. Das Buch war in
einer Zeit erschienen, die andere Probleme kannte.
Aber was Musils Held den alten Quellen vorwarf, dass
sie den anderen Zustand nur propagierten und diesen
lediglich innerhalb ihres religiösen Systems mit
prmitiven Vergleichen, etwa dass sie Gott begegnet
wären, beschrieben (wie Höhnt auch Castanedas Don Juan
über die enermessliche Erfahrung des menschlichen
Prägestocks) , konnte man das auch ihm selbst
vorwerfen. Im besten Fall beschrieb Musil den
angestrebten Zustand gar nicht, oder beschränkte sich
auf wenige Andeutungen, dass man sich “Jenseits von
Gut und Böse“ fühlte. Das war jedoch verständlich.
Ulrich und Agathe waren wie zwei Adepten, die an die
geheime Trickkiste des Meisters gehen wollten. Das war
auch der springende Punkt, sie waren auf sich selbst
angewiesen und standen erst am Anfang. “Übe niemals
allein.“ – das musste Musil trotzdem irgendwie
eingeleuchtet haben, das Geschwisterpaar war wie die
Urzelle einer spirituellen Freundschaft. Als Autorität
hatten sie nur die Aufzeichnungen der Alten und den
erotischen Faden, mehr als dünn, langgestreckt,
windend. Um allerdings Wissen aus Büchern zu gewinnen,
musste man erst viele Praxisgemeinschaften
durchlaufen, viel Erfahrung haben, das wusste ich noch
immer. In diesem Lichte war Musil ein Theoretiker,
allerdings einer, der wie ein Komet vor einem
nichtssagenden Sternenhimmel seine Bahn zog, um einen
philosophiegeschichtlichen Begriff von Deleuze, auf
die italienische Philophensituation gemünzt, zu
entlehnen, ein Einsamer in der gesellschaftlichen
Wüste, die verbrannt und verwüstet von sozialer,
politischer und wirtschaftlicher Agitation war. Er
hatte sein gesamtes Vermögen während der
Wirtschaftskrise verloren und seine literarische
Arbeit wurde vom Kreis der ´Freunde des Mannes ohne
Eigenschaften´ unterstützt, bis diese, grösstenteils
Juden, vor den Nazis in Deutschland flüchten mussten.
So viele waren während des Krieges gestorben, Virginia
Woolf, Stefan Zweig, und auch Musil. Ich fragte mich,
ob eine Fortsetzung des grossen Romans sinnvoll
gewesen wäre, und nahm mir zu diesem Zweck vor, den
Nachlass genauer zu studieren. Es gab noch ein Buch
das ich besass, aber noch nicht reingeschaut habe:
>Lesebuch. Versuche, einen Menschen zu finden.<. Naja,
kommt Zeit übt Rat.
Aber hatte ich mehr als nur Bücher? Da war mein
spiritueller Freund und Meister des Tees, der Milch-,
der Honigbrotmeister des Taichi, mit dem ich üben und
diskutieren konnte. Da war die Zen - Gemeinschaft am
Fleischmarkt die jeden Sonntag
Einführungsveranstaltungen abhielt, mit Sitz- und
Gehmeditation (Kinhin?), und Essen, für einen Obulus.
Ich war tatsächlich besser dran als die alten Meister,
es gab mehr Angebote, nicht nur von entsprechenden
Büchern sondern fast aller Praktiken, angefangen mit
Yoga, verschiedenster Kampfkünste und anderer
Bewegungsarten, über die vielen Spielarten des Zen bis
zu allen Arten mehr oder weniger gefragter
esoterischer Schulen, Freimaurer und Rosenkreuzer. Die
Zeit war eine andere, nicht nur für die
Wissenschaften. Mich sprach der Zen die meiste Zeit
an, weil dort die Beschreibung von Musils ´anderem
Zustand´, falls es den überhaupt gab, zumeinst mit
Naturmetaphern geleistet wurde und ohne
Gottesvorstellung auskam. Auch gab es schöne,
unzählige Einteilungen der Erkenntnisstufen, was immer
eine heikle Sache ist, weil es dazu verführte, sich
darauf allzu sehr zu fixieren, vor allem die
Einsichtsmeditation (Vipassana) und die Tibeter
leisteten hierbei erstaunliches. Doch war jede
Einteilung eben nur ein Hilfsmittel. Ihm persönlich
reichte das castanedische Schema der vier Feinde
Angst, Klarheit, Macht und Tod, das sogar Eingang in
die moderne Philosophie gefunden hatte. Mit einem
dermassen einfachen Schema verlor man nicht die
Dimensionen aus den Augen.
Ich wusste, was die ´zivilisierte Welt´ am Buddhism,
genauer gesagt, bei mir, am Zen, hatte. Ein Werkzeug.
Nichts weiter als ein Tool, das man am geeigneten
Objekt, sagen wir dem Herz-Geist-Körper, ansetzen
konnte. Im Grunde war es so einfach wie der
pythagoreische Lehrsatz. Wenn zwei Seiten eines
rechtwinkeligen Dreiecks gegeben waren, konnte man
sich die dritte ausrechnen. Vorausgesetzt natürlich,
man konnte rechnen und war nicht zu faul dazu.
Pythagoras war unter anderem ein Mystiker gewesen, der
eine esoterische Sekte geleitet hatte, jedenfalls nach
Meinung hs. Aber das war ein anderes Kapitel, obwohl
mir der Zusammenhang zwischen Mathematik und Mystik
gefiel. Es war wie bei Musil. ich habe sowas nie
verstanden.
Ich errechnete also aus einer anderen Formel: Gegeben
meine Psyche und meinen Körper folgten mit Hilfe des
Zen Aufschlüsse über meine affektiven Anhaftungen.
Aber an den Affekten, eigentlich auch an den
verschiedenen Gefühlen war im Grunde nichts
auszusetzen, auch nicht an den negativen. Man musste
mit ihnen umgehen lernen, genauso wie man mit den
Beinen lernen muss zu gehen, wie man sprechen und
rechnen lernt. Es ist nichts falsch mit unserem
Körper, durchfuhr es mich plötzlich heiss, der Gedanke
hatte einen Affekt ausgelöst und das Blut schoss in
meinen Kopf. “Halt!“ wollte ich meinen Mitmenschen
nach Art von Prentice Mulford zurufen, lasst alles
liegen und stehen und ´geniesst´ das Leben. Natürlich
darf man niemandem etwas befehlen, und ausserdem wäre
ich mir als >Moralapostel inspiré< in Wirklichkeit
ziemlich lächerlich vorgekommen. Und schliesslich ging
ich ja auch nicht mitten in der Arbeit weg oder hielt
getroffene Vereinbarungen und Verabredungen nicht ein.
Meine Gedanken waren noch viel zu unklar, eigentlich
war ich noch gar nicht aus dem Erstaunen
herausgekommen, was alles mit mir geschah. Warum
tauchte, neben den Erkenntnissen die mich glücklich
machten, relativ Glückselig, variierte ich eine der
gelesenen Erkenntnisstufen im Geiste, ein im Grunde
miserabler Zustand, denn er war verführerisch, aber
einer, musste also, leider!, wieder verlassen werden,
dieser andere Kram auf, das Summen, die Stimmen, diese
ganze so einseitige eselartige Pseudo - Telepathie.
Natürlich, ich war zu schwach, aber das durfte ich
nicht akzeptieren, weil dann war das Spiel gelaufen
und ich hatte nicht viele andere.

Weiter Freundin V

So lag ich weiter müssig auf dem Bett herum, nachdem
mir diese Gedanken durch den Kopf gezogen waren und
wünschte mir noch eine Nachricht von V, wartete
richtiggehend darauf. Und tatsächlich: “Piep piep“,
meldete sich das Telephon, das ich auf das
aufgeschlagene Buch gelegt hatte, es war wirklich eine
weitere Nachricht von V angekommen: “Gib mir deine
@-Adresse, falls es Sinn macht, bussi V.“ Es war zum
verrückt werden. Nicht nur war mein unmittelbarer
Wunsch in Erfüllung gegangen, es war auch, als ob sie
meine Gedanken über den möglichen email - Verkehr,
eine Abwandlung der Kafka-Liebesmethode, mit mir,
geahnt hätte. Trotzdem lief sogleich die
Rationalisierung an: Sie hat vergessen, beim ersten
SMS danach zu fragen. Da sie jetzt im Ausland ist, und
nicht nur im Ausbundesland, will sie mir eben per
email schreiben. Was spielte es für eine Rolle, dass
ich mir das erst Tags zuvor gewünscht hatte, genauso
wie ich mir gerade eben gewunschen hatte, dass sie mir
noch einmal schreiben solle? Wäre es nicht
eingetroffen, hätte ich meine Wünsche, es gab ja hie
und da welche, längst vergessen, durch andere ersetzt.
Aber war das alles?

Ereignis V und I

Plötzlich fiel mir ein, dass schon vor zirca einem
Monat eine dieser merkwürdigen Koinzidenzen mit V
passiert war, die sich für mich sogar viel konkreter
ausgewirkt, ja sogar meine Handlungen beeinflusst
hatte. (Nichts, nichts war passiert! Dennoch: ) ich
hatte damals eine Nachricht von I bekommen, des
Inhalts, dass sie in ein paar Tagen in der Stadt sein
würde. Ich war darüber sehr erfreut gewesen, denn ich
begehrte sie sehr und hatte sie so früh nicht
erwartet. Während ich an demselben Abend auf die
Strassenbahn wartete, war ich ganz in mein Glück
vertieft. “Ich will mit dir wohnen“, dachte ich, “mit
dir leben, dich lieben.“, ganz irreal, es waren reine
Tagträumereien, in Wirklichkeit kam sie nur für ganz
kurze Zeit. Aber hatte sie mir nicht sogar ein
verhülltes Angebot gemacht? Das Telefon riss mich aus
diesen Träumereien, es war V.
“Halihalo, wie geht’s denn so?“, jubelte ich direkt in
das Sprechteil. Ich freute mich dass sie anrief, ich
freute mich überhaupt sehr. Alles war wunderbar. Doch
was war das für ein jammervoller Ton am anderen Ende
der Leitung, der:
“Geht so ..“, sagte? Wenn V sich beklagte schien ihre
Stimme tief aus der Kehle zu kommen und hörte sich
quäckend an. Aus einem undefinierbaren Grund liebte
ich es, wenn sie so sprach, vielleicht erinnerte es
mich an mich selbst, so hatte ich mich wahrscheinlich
die längste Zeit meiner Jugend angehört, als ich
unbewusst allzuviel beklagte. Vielleicht weckte es
auch einen Beschützerinstinkt in mir, jedes Mal wollte
ich sie dann in die Arme nehmen und ihr diese
einfachste aller gesellschaftlichen Formeln
zuflüstern: “Ist ja alles gut. Ich bin ja da.“
- “Aber, aber, was ist denn?“, fragte ich stattdessen
noch immer gut gelaunt.
“Weißt du, ich habe mir überlegt, was für eine ideale
Beziehung wir gehabt haben, und vielleicht sollten wir
es wieder versuchen?“ –
Sie kam immer sofort auf den Punkt, wenn sie sich
einmal ein Herz gefasst hatte. Ich hörte auch den
Alkohol dahinter.
“Also das erstaunt mich jetzt gar nicht, dass du so
was sagst.“ - es stimmte, sie waren wirklich ein
ideales Paar gewesen, und tatsächlich war ich nicht
erstaunt über ihre Eröffnung. Vieles hatte in letzter
Zeit darauf hingedeutet, dass einer von uns mal wieder
den anderen einlädt, auch ihre permanenten Beschwerden
über ihre jetzige Beziehung. Und ich hatte es nicht
hören wollen, weil ich nur an I denken konnte.
“Jaa....?“ –
“Torschlusspanik, was V?“ –
“Jetzt wirst du gemein.“
Ihr Tonfall erlahmte gänzlich. So fragte ich sie aus
und es gelang mir sie aufzuheitern, ohne sich
festlegen zu müssen, ob das eine geschlossene
Beziehung sein müsste, sie ahnte mein geteiltes
Interesse. Ich war eben ein Idiot, die Chancen
zerronnen unter meinen Händen wie dem Idioten aus
Dostojewskis gleichnamigen Roman, weil ich mich nicht
entscheiden wollte, Fürst Myschkin, den Keine richtig
wollte, den aber jede unter Umständen genommen hätte.
Beide oder keine. Doch ich liebte V, hatte nie
aufgehört sie zu lieben. Ich blieb heiter, die
Strassenbahn kam lange nicht und wir plauderten viel
und zum Schluss beteuerten wir uns unserer
gegenseitigen Liebe, selbstverständlich ganz
unverbindlich. Was wir uns mit Wörtern nicht alles
trauen, dachte ich, die Realisation hingegen war etwas
ganz anderes.
Ich wusste, das würde dann alles noch einmal gemacht
werden müssen, die Versprechungen waren für die Katz,
solange wir uns nicht sahen. Wenn wir uns das nächste
Mal treffen würden, würden wir uns ein Küsschen geben
und so tun, als ob nichts ist. Nur würde ich mich dann
nicht einmal mehr trauen sie bei der Hand zu nehmen
wie so oft. Die Wörter bewirkten bei uns das Gegenteil
ihrer Absicht, sie entfernten uns voneinander. Sie
würde sich erst bei mir einhacken müssen, unter
Umständen. Ich kam mir wieder wie ein Meisterredner
vor, ich konnte einfach alles zerreden. Da fuhr ich
nun nach Hause und wiegte mich noch in einem
scheinbaren Erfolg. Ich wurde geliebt, begehrt,
gebraucht. Doch die Koinzidenz war unübersehbar. Noch
nie hatte ich mich nämlich so festgelegt wie eben vor
dem Telefonat, wenn auch in Gedanken, ich hatte mit I
gerade leben wollen, es war keine Spekulation gewesen,
sondern ein starker Wunsch, wenn auch vielleicht nur
ein Traum, wie man eben träumt, vor dem Fernseher
etwa. So weit war ich noch nie gegangen, wenn es auch
nur in Gedanken und narrenhaft war. Und gerade dann
musste V anrufen und mich an sich erinnern, das war
der blödsinnigste Zufall! Drehte sich mein Leben immer
nur um diese zwei Frauen, die sich scheinbar andauernd
im Weg standen, was mich betraf? Die Konsequenzen
dieses Gesprächs zeigten sich schon eine Woche später.

I

Das Wiedersehen mit I mündete vorerst in lauter kleine
Vorgeplänkel. Ich wollte nichts von ihrem Typen aus
Paris wissen und wollte doch. Also erzählte sie nicht
viel und wir sprachen wie immer über Wissenschaft,
Kunst, unsere Projekte. Ich wusste, dass sie mich bei
aller Wertschätzung nicht wollte, im Moment vielleicht
nur, und dieses Bewusstsein war wie eine schwärende
Wunde allzeit in mir. Deswegen hing so viel von meinem
Verhalten ab. Die erste Chance bekam ich nachdem wir
im Rhiz gewesen waren. Wir hatten angeregt geplaudert,
das heisst, sie hatte mir viel erzählt und ich mein
Wissen dann und wann eingestreut. Wie so oft wurde man
an den Nachbartischen auf uns aufmerksam, auf mich,
auf uns, beide spornten weir uns zur Dreistigkeit an.
Ich kannte das, es war eine Mischung aus Neugier und
Übelwollen. Dieses Auffallen konnte ich mir nie ganz
erklären, es war als ob meine Ignoranz für die
Umgebung, die aber auf meine Schüchternheit
zurückzuführen war, ich konnte Unbekannten kaum in die
Augen schauen, während ich mich an den Freunden
sattsah, die Menschen aufregte. Dazu kamen die Themen,
über die wir sprachen, immer über Kunst, Film,
Philosophie. Als ich auch den Namen “Godard“ fallen
lies, hörte ich undeutlich vom Nebentisch:
“Auch noch Godard ..“, es war beinahe eine Spur
feindselig gesagt worden. Das alles verlieh mir einen
gewissen Nimbus, der auf I anregend gewirkt hatte. Ich
überhörte aber ihre Anspielung gänzlich, sie sagte,
sie wolle ihrem Liebhaber eines auswischen, ihrem
ehemaligen, ja ich missverstand sie. Sie wollte nicht
erklären. Wenn ich so dumm war.
Schliesslich lud sie mich zu sich ein. Ich ging mit
dem Bewusstsein hin, dass ich sie verführen wolle. Es
war 22 Uhr, ein warmer Sommerabend und sie trug ein
enges T-Shirt und ganz kurze, anliegende Sportshorts,
was einen starken Eindruck auf mich machte, denn ihr
Körper war, obwohl jugendlich schlank, beinahe schon
zu weiblich gerundet. Ich hatte einen Kloss in der
Kehle. Ich wusste, wenn sie auf dem Bauch lag, dann
wölbte sich ihr Hintern in einer Weise hervor, die ich
einmal im Scherz als obszön bezeichnet hatte. Und ihr
Gesicht strahlte in diesem charakteristischen Glanz,
der mir wie immer ganz unfassbar vorkam und den ich so
liebte, ihre leicht geröteten Wangen sandten ein
weisse weiches Licht aus. Ich wusste nicht woran das
lag, aber ihre glatte Haut schien dann tatsächlich zu
leuchten, sodass ihr ganzer Kopf strahlte, als ob er
von einem Heiligenschein umgeben wäre. Ich hatte das
bislang nur bei ihr bemerkt, oder so genau schauen
können, aber vermutlich war es nichts weiter als die
Energie ihrer Jugend. Ein gesundes, junges Mädchen
voller Tatendrang. Wir strahlten uns bei der
Begrüssung an. Aber schon meine erste Handlung
besiegelte mein Schicksal. Begleitet von ihrem
erstaunten Blick, der auf den Platz neben ihr wies,
liess ich mich schwer in den Korbsessel vis-a-vis
fallen. Wir tranken Wein, sie erzählte von den Buch
und Wein Geschäft, wo sie ihn gekauft hatte. Ich
bewundert ihre langen, eingezogenen Beine und kam mir
wie ein Ehebrecher vor, weil der Anruf von V mich
nicht loslies, Narr der ich war. Liebte ich denn I,
fragte er sich. Einmal hatte er es getan, mit einer
Intensität des Gefühls, die ihm damals neu gewesen
war. Aber da war V. Warum nur war bei ihm Liebe und
Sex so verbunden, dachte er. Wir wollen es doch beide.
Ich begann im Stillen an ihr herumzukritteln. Was
waren das für Linien auf ihrem Po? Wirkten ihre Füsse
und Hände nicht ein wenig plump?
Es ist doch zum Heulen, dachte ich, ich will doch und
schaffe es nicht mich aufzuraffen, es sich nur zwei
Meter, die unsere Körper trennen. Dann riss es ihn,
als sie lächelnd sagte: “Aber wer wird denn da
heulen?“
Das war zuviel, ich konnte keine Gedankenübertragungen
mehr verkraften. Denn meine Miene war gleichmütig
gewesen, dessen war ich mir sicher. Oder hatte ich
wirklich so jämmerlich dreingeschaut? Nun gut,
vielleicht ein leichter Tränenansatz war sichtbar.
Jetzt war ich endgültig erstarrt. Sie startete einen
letzen schwachen Versuch und klagte über Schmerzen im
rechten Bein, war es geschwollen, fragte sie mich. Ich
machte nicht einmal mehr Anstalten aufzustehen, mich
zu bücken um nachzusehen. Schliesslich schmiss sie
mich raus. Recht geschah mir. Es war ein so vertrautes
Gefühl es vermasselt zu haben, dass ich mich nicht
einmal besonders bedauern konnte. Und da war noch was;
Mein Wahn. Ich musste die Menschen fliehen, wenn sie
scheinbar errieten war ich dachte. In diesem Zustand
konnte ich mir körperliche Nähe schon gar nicht
vorstellen. Obwohl wahrscheinlich genau das fehlte.
Wie ging Castaneda: Die leutenden Energieeier der
Menschen rollen sich, wenn zusammen, ein.
“Begreift er denn gar nichts?“ – hatte sie zum Schluss
ausgerufen.
Doch, ich begriff einiges, dass sie mich nicht lieben
wollte, dass sie sogar Angst davor hatte, vor Liebe
überhaupt, dass sie etwas anders von ihm wollte, dass
Sexualpartner für Menschen wie sie beide es waren
nicht auf Bäumen wuchsen, Menschen, die bei aller
Sinnlichkeit so intellektualisiert waren und so stolz,
dass sie Gefahr liefen nie zu handeln und sich leicht
lächerlich machten. Ich konnte mich ihr umso weniger
nähern, je mehr die Koinzidenzen zunahmen, mein Wahn
immer mehr Tribut von mir forderte. Doch während ich
heimging begann gleichzeitig auch schon die
Rationalisierungsmaschinerie anzulaufen: Es ist wegen
V, beruhigte ich mich. Ausserdem liebt sie mich nicht.
Was glaubt sie denn, in Paris zuerst den einen und
dann hier mich. Und wen, wenn sie in ein paar Monaten
wieder wegfährt? Ziemlich lächerlich, was ichdachte,
immer das gleiche. Aber das alles verblasste hinter
der Ahnung, dass mir gerade das fehlte, dass etwas vom
alten Rein – Raus – Spiel, Burgess beflügelte seine
Metaphern, am besten geeignet war, meinen Wahn zu
mildern. Mit jemandem ins Bett zu gehen der noch
lebte, nicht mit toten Dichtern. Mit diesem köstlichen
Mädchen, dem ich so sehr glich, das den Kopf voller
französischer Romane, wie Puschkin geurteilt hätte,
und den Körper einer Göttin hatte, wie ich einmal bei
Gelegenheit zu ihr gemeint hatte, und flink und
vorlaut war, und nach allem griff, immer in Gefahr,
sich die Finger zu verbrennen. Vorwärts Juliette, noch
eine Anstrengung mehr! Ich brachte es nicht bis zur
Rage. Zorn war der Bruder der Wehmut.
Das Leben ging unterdessen weiter und ich stand vor
der Aufgabe, mich ins Haus zu stehlen, ohne meinen
Nachbarn zuviel von meinen Gedanken zu verraten. Der
Weg zurück runter, eine lange Gerade sich der Stadt
näherend, der Bimweg. “Sum sum, di dum, um hum, jum“,
summte ich deswegen leise vor mich hin. Kranke
Gedanken nicht fortzuführen war die Heilung. Ich zog
schliesslich eine saubere Fluchtlinie die Treppe
hinauf. Endlich wieder allein. Ich rekapitulierte. In
meiner Panik hatte er ihr sogar aus dem Pessoa, den
ich ihr geborgt hatte, vorgelesen, von der unbedingten
Rücksichtnahme, dem Respekt gegenüber anderen und
lauter weitere Unpassentheiten. Nein, ich war kein
Fernando Pessoa, der lissaboner Hilfsbuchhalter, der
vor lauter Kummer über sein “Gesichtchen“ und über die
Welt sich im Leben nie eine Frau angelacht hatte. Ich
war vielmehr stolz auf meine Männlichkeit und eitel.
Und eine leicht wahnsinniges Muttersöhnchen.

Weitere Reflexionen

Es kam mir immer mehr vor, als ob mein Leben nicht
mehr mir gehörte. Die Leute machten damit was sie
wollten und wenn ich es genau bedachte, war das im
Grunde eine universale Wahrheit. Drückt jemand auf den
berühmten roten Knopf, verglühen die Unschuldigen im
Ascheregen. Mischt jemand Kühlflüssigkeit in den Wein
den sie tranken, verenden sie qualvoll. Kalkulierbares
Risiko, das stimmte! Aber wenn sie bis in meinen Kopf
eindrangen, mir die Flügel meiner ganz privaten
Gedanken stutzen konnten? Dann blieb nur noch das
Irrenhaus. Es war das ein ungesunder Gedanke. Ich
brauchte mehr Disziplin, mehr Aufmerksamkeit.
Vielleicht sollte ich wieder zum Meditieren anfangen?
Vielleicht sollte ich eine gemeinsame Praxis üben?
Eine Zen-Geschichte fiel mir ein.

Geschichte

Ein Mönch verliess nach vielen Jahren das Kloster, in
welches er als Junge eingewiesen worden war, weil er
keine Fortschritte machte. Er stolperte in der
unbekannten Stadt direkt ins Rotlichtviertel und wurde
von einer Prostituierten verführt. Und auf dem
Höhepunkt erlebte er endlich die solange vergebens
ersehnte sogenannte Erleuchtungserfahrung.
Diese Geschichte hatte ich vor längerer Zeit gelesen.
Auch so was stand in der Zenliteratur. Der Mönch
gründete eine Schule, die den Koitus zur Methode
machte und hatte viele Schülerinnen. Es war vielleicht
dumm, auf so etwas Vagem wie Sex zu bauen. Die 60er
Jahre hatten es versucht.

Zwei Erklärungen

Mein Wahn erschreckte mich nicht an und für sich. Ich
hätte mich mit einer Welt, in der Telepathie und
Mystik Realität und anerkannt waren, leicht abfinden
können. Vielleicht wünschte ich sie sogar und das war
der geheime Grund für meine Verwirrung. Aber diese
Erklärung war zu einfach.
Was mich wirklich verstörte war seine Rolle in einer
solchen Welt. Es war alles zu sehr auf mich bezogen,
oder vielmehr, ich bezog alles zu sehr auf sich. Das
war das krankhafte daran und es missfiel mir. Aber man
konnte die Koinzidenzen, die Simultanitäten, wie C.G.
Jung es genannt hatte, auch anders betrachten.

Liesse man die Welt wie sie war und einen Glauben an
gewisse Praktiken die, sagen wir einmal, den
Herz-Geist-Körper als Anwendungsgebiet hatten, wie
etwa Meditation oder die Kampfkünste gelten, entschied
man sich mit einem Wort für ein magisches Universum
dann konnte man sich durchaus damit versöhnen, ja man
konnte darin agieren.

Als zweite Möglichkeit konnte man ohne weiters auch
dem sozialen Leben allein in seinen tatsächlich
Gegebenheiten eine dermassen feine Ausformung
zugestehen, dass Stimmungen argumentierbar werden die
es ermöglichen, gewisse Situationen vorauszuahnen und
Menschen manchmal zu durchschauen, weil eben
Stimmungen und Ereignisse die Eigenschaft haben sich
zu zeigen, in der Luft zu liegen, dazumal die
Möglichkeiten und Kombinationen begrenzt waren, es war
das alles nicht so viel, nicht so schwierig, so neu.
Diese zweite Betrachtungsweise war höchst einfach und
tatsächlich für viele Situationen auch wahr. Ich
erlebte oft, wie ich allein durch das aufmerksame
Zuhören erriet, was mein Gesprächspartner sagen würde.
Doch war es immer so? Dann waren die Koinzidenzen
lediglich Ausdruck eines Zusammentreffens von einigen
möglichen Elementen und vorhersehbar. Wenn man
jemanden beleidigte, dann war dieser Jemand zornig.
Oder? In der Weise würde man sich lediglich
vorstellen, was sowieso drauf und dran war zu
passieren, oder was zumindest denkbar war. Und da die
gesellschaftliche Sphäre nicht nur ausdrucksstark und
äusserst verfeinert, sondern selbstverständlich auch
sehr wirkungsvoll war, hatte ich eben auch im üblichen
Reigen der Menschen mitgespielt. Ein Gesicht wie eine
Landschaft, beides beeindruckte mich tief. Ich hatte
mich nur ungewöhnlich stark konzentriert und so war
mir, als ob viel mehr Eindrücke auf mich einprallten,
viel mehr Gedanken, obwohl ihre Anzahl objektiv
gleichgeblieben war. Ich beobachtete um so schärfer,
als ich meine gewöhnlichen Ängste und Sorgen
abgestellt hatte, ich geradezu ernüchtert geworden
war. Ich lebte nicht wie im Dauerrausch eines
Süchtigen unablässig die Sorge um das Selbst. Der
erste Feind, die Angst war gestellt, aber nicht
besiegt. Ich stand ihr Aug in Aug gegenüber und lernte
ihre Schwächen und Stärken kennen, während wir uns
gegenseitig umkreisten. Die Angst war sozusagen keine
vage Nebelwand mehr, die ungreifbar, überall war. Was
man kannte, damit konnte man versuchen umzugehen. Oder
davor weglaufen, in die Gegenrichtung, sich auf den
Atem konzentrieren, und (oder oder) erkennen, dass es
gar keinen Feind gab, oder erklärbar, wenn nicht
erlebt. So hoffte ich jedenfalls. Vielen, die verrückt
waren oder wurden, musste es so ergehen. Irgendetwas
hatte sie konzentriert, sie von den angelernten
Pflichten und Sorgen weggehoben und sie der Angst
gegenübergestellt. Wie sollten sie damit umgehen,
allein? Ich kannte erstaunliche Berichte von
Schizophrenen, zu denen der einzige Zugang einzig und
allein über das langwierige Begreifen und
Nachvollziehen ihres speziellen Zustands führte. Doch
ich wusste auch, dass insgeheim alle ein Ressentiment
gegen die Verrückten pflegten. Es war doch ohnehin
schwierig genug sich durchzuschlagen, niemand war
gefeit gegen die Morbitäten des Lebens. Warum sollten
sich gerade die Verrückten davonstehlen können?

Die Kühe

Und das nächste seltsame Ereignis lies nicht lange auf
sich warten, doch diesmal hatte es nicht mit Menschen
zu tun.
Er war bei seinem spirituellen Freund zu Besuch, um
ein Wochenend – Retreat zu machen. Es war an der Zeit
weiterzumachen, wo er bei Meditieren aufgehört hatte.
Er konnte auf seinen Wahn nicht ewig Rücksicht nehmen,
und vielleicht half es ihm ja im Gegenteil dabei,
wieder normaler, ruhiger, weniger exaltiert, zu
werden.
H hatte am Land ein Haus, seine Eltern wohnten dort,
und es war ein magischer Ort. Wenn man spazieren ging
folgten einem die Hauskatzen, und weiter oben beim
Wald gab es einen zeitlosen Platz, von dem man kein
Zeichen der Zivilisation sehen konnte, sondern von
Natur umgeben war, Heiden, Wälder, Berge, Himmel.
Gleich nach seiner Ankunft traten sie den
traditionellen Spaziergang zu diesem Wald an. Vor dem
Haus weideten träge rund ein Duzend Kühe. Er bekam so
grosse Tiere selten zu Gesicht, als Kind hatte er
regelrecht Angst vor Kühen, und absichtlich ignorierte
er sie, diese Wiederkäuer, er tat es tatsächlich aus
einer spielerischen Bosheit ihnen gegenüber, die ihn
so offen anstarrten, als sie beide sich ihnen nährten.
Er tat einfach wie gegenüber allem Ungewohnten: Er
übersah es. Der Effekt lies nicht lange auf sich
warten. Aus heiterem Himmel begannen sie allesamt,
gleichzeitig zu muhen. Als ob sie über sein Verhalten
bestürzt wären - Nein, aufgebracht über diese doch so
seltene Gelegeheit, die Fauna in ihrer Gestalt zu
ehren.
Es war ein wirklich schöner Tag und wie es am Lande
die meiste Zeit ist, seht still. Nur die neu gebaute
Autobahn summte und flimmerte, ein dünner,
vielfarbiger unscharfer Schnitt in der Landschaft weit
weg am Bergsaum, aber die hatten wir im Rücken. Und
dieses aus circa ein Duzend Kehlen in diese Stille
hereingebrochenes Signal war immens laut, ähnlich wie
ein Nebelhorn klang dicht neben einer verschlafenen
Hafenstadt. Es brachte ihn ein wenig aus der Fassung.
Er zweifelte keinen Augenblick, d.h. nachdem noch
einmal geschaut hatte, ja, sie schauten ihn, den
Fremden unverwandt an, folgten ihm mit dem Blick, dass
sie über ihn so aufgebracht waren, eindringlich
schauten sie mich alle an, ohne Ausnahme, nur Helm
kümmert sich nicht weiter darum, es waren schliesslich
die Hauskühe. Eine ganze Sippe und der Eindringling.
Doch wirkte auch der Teemeister irritiert. Es war
eines dieser Zeichen, die zum Denken anregten,
tatsächlich ein Schock. Er musste was unternehmen. Und
so wandte er sich um, sie waren mittlerweile an den
Kühen vorbeigegangen und grinste sie freundlich an,
winkte und rief ihnen zu: “Ja Hallo! Ist schon gut,
sevus, wie geht´s denn?“. Tatsächlich beruhigten sie
sich auf der Stelle. Wir sprachen nicht weiter
darüber, die Situation war offensichtlich absurd
gewesen. Ereignisse dieser Art waren so unglaublich
und dabei so unnütz, als ob seine Wirkkraft in der
Welt, wenn es eine solche gab, flüchtig wie Alkohol
war, gänzlich untauglich, in harte Münze geschlagen zu
werden. Eine Gunst der Stunde, ein unnachahmlicher
Augenblick, in dem er fühlte, dass die Sprache
unvermögend ist solche Ereignisse zu fassen, auch im
Nachhinein, in vijana, der Reflexion, dass das was ihn
so oft unerwartet traf nicht in die gebräuchlichen
Aussagegefüge passte weil es irrelevant war und zu
singulär, um es zu verallgemeinern, sicherlich gab es
einen Mangel an passenden Begriffen. Deswegen gab es
ja so viel Text. Alles musste, im Detail, immer und
immer wieder besprochen werden, wer konnte wissen,
wann welcher Punkt gerade benötigt wird. Ich war mit
Stummheit geschlagen und das war gut so, denn ich
musste damit alleine fertig werden. Seine Freunde
durften nicht anfangen, ihn für einen Verrückten zu
halten, ich hatte ohnedies die Genugtuung, dass sie
oft Zeugen der Koinzidenzen und dadurch gleichzeitig
heimliche Mitverschwörer wurden.

b_ryz@yahoo.de

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